Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
dem ein rasanter Aufstieg vom Assistenzarzt für Notfallmedizin zum stellvertretenden Leiter der Notaufnahme gelungen war. Als solcher war er auch für die Dienstpläne zuständig. Jennifer hatte ihn während ihres ersten Studienjahrs kennengelernt, als er noch Assistenzarzt war. An der Ostküste gab es keine Menschen wie ihn, und er hatte Jennifer von Anfang an fasziniert. Neil entsprach voll und ganz dem Klischee des südkalifornischen Surfer-Boys, nur ohne die blonden Haare, die in seinem Fall von einem unauffälligen Braun waren. Was Jennifer besonders auffiel, war seine offene, freundliche, lockere Art, die einen scharfen Gegensatz zu der Tatsache bildete, dass er auch ein Intellektueller und ein Bücherwurm mit einem beinahe fotografischen Gedächtnis war. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie tatsächlich nicht glauben können, dass er sich für ein so spannungs- und anspruchsvolles Gebiet wie die Notfallmedizin entschieden hatte.
Jennifer war sich durchaus im Klaren, dass sie, was den Umgang mit anderen Menschen und das Auftreten in der Öffentlichkeit anging, nicht viel mit ihm gemeinsam hatte. Aber was sie miteinander verband, waren die Gier nach Wissen allein um des Wissens willen und die Lerngewohnheiten. Außerdem hatte er sich als fruchtbare Quelle für alle Arten von Informationen erwiesen. Im Lauf eines Jahres entwickelte sich bei ihr das Gefühl, als sei Neil der erste Mann, mit dem sie sich wirklich unterhalten konnte, und zwar nicht nur über Medizin. Da war es nur logisch, dass sich eine enge Freundschaft zwischen ihnen entwickelt hatte. Genau genommen war Neil sogar ihr erster richtiger Freund. Sie hatte zwar immer gedacht, sie hätte vor ihm schon andere Freunde gehabt, aber nachdem sie Neil kennengelernt hatte, war ihr klar, dass das nicht stimmte. Neil war der erste Mensch, dem Jennifer auch ihre intimsten Geheimnisse anvertraut hatte.
»Entschuldigung!«, rief Jennifer einem der gehetzten Pfleger an dem chaotischen Stationstresen zu. Er hatte gerade einem Kollegen, der etliche Türen weiter den Kopf zur Tür eines Behandlungszimmers herausgestreckt hatte, etwas zugerufen. »Können Sie mir sagen, wo ich Dr. McCulgan finde?«
»Tut mir leid, keine Ahnung«, erwiderte der Mann. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht nur ein, sondern zwei Stethoskope um den Hals hängen. »Haben Sie’s schon in seinem Büro versucht?«
Jennifer nahm den Vorschlag an und eilte hinüber in den Triagebereich, wo sich das Büro befand. Sie warf einen Blick hinein und dachte: Glück gehabt. Er trug einen frisch gestärkten weißen Mantel über der grünen OP-Kleidung und saß mit dem Rücken zu ihr an seinem Schreibtisch. Jennifer ließ sich auf den zwischen Schreibtisch und Wand gequetschten Stuhl fallen. Er zuckte zusammen und hob sofort den Kopf.
»Hast du zu tun?«, stieß Jennifer mit stockender Stimme hervor. Ihre Frage entlockte dem Mann, der sich bereits wieder dem riesigen Dienstplan für den Monat November zugewandt hatte, lediglich so etwas wie ein schnaubendes Kichern.
Neil hatte ein hübsches Gesicht, intelligente Augen, breite Schultern und die außergewöhnlich schmalen Hüften eines Surfers. An den Füßen trug er weiße Lederclogs mit Holzsohlen. »Kann ich dich mal kurz sprechen?«, sagte sie. Dabei musste sie gegen die aufsteigenden Tränen kämpfen.
»Wenn’s schnell geht«, sagte er lächelnd. »Der Dienstplan muss in einer Stunde an den Drucker gehen.« Er hob noch einmal den Kopf und bemerkte erst jetzt, wie sehr sie mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte. »Was ist denn los?«, sagte er, plötzlich betroffen. Er legte den Stift beiseite und beugte sich zu ihr.
»Ich habe heute Morgen etwas Schreckliches erfahren.«
»Das tut mir leid«, erwiderte er und legte ihr die Hand auf den Arm. Er fragte nicht, was sie erfahren hatte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie es ihm sagen würde, wenn sie dazu bereit war. Und wenn nicht, dann war alles Drängen von seiner Seite zwecklos.
»Danke. Es geht um meine Großmutter.« Jennifer schüttelte seine Hand ab und nahm ein Taschentuch von seinem Schreibtisch.
»Du hast mir von ihr erzählt. Maria heißt sie, nicht wahr?«
»Ja. Sie ist vor wenigen Stunden gestorben. Es ist sogar auf CNN gemeldet worden, ob du’s glaubst oder nicht.«
»Oh, nein! Meine Güte, das tut mir wirklich sehr, sehr leid. Ich weiß ja, was sie dir bedeutet hat. Was ist denn passiert?«
»Angeblich hat sie einen Herzinfarkt gehabt, aber das kann ich kaum
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