Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
glauben.«
»Kann ich nachvollziehen. Hat sie sich nicht erst kürzlich hier im Krankenhaus auf Herz und Nieren untersuchen lassen und dabei bemerkenswert gut abgeschnitten?«
»Ganz genau. Sie hat sogar einen Stresstest gemacht und bestanden.«
»Fährst du jetzt nach Hause oder geht das gar nicht? Ich meine, heute hat doch dein neuer Chirurgiekurs angefangen, oder?«
»Ja und nein«, erwiderte Jennifer kryptisch. »Die Situation ist ein bisschen komplizierter.« Dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte mit Indien, dass sie ständig mit der Frage nach Einäscherung oder Einbalsamierung des Leichnams bedrängt wurde, dass sie vom Dekanat eine Woche Sonderurlaub bekommen hatte, dass ein medizinisches Dienstleistungsunternehmen ihre Kosten übernahm und dass sie in ein paar Stunden losfliegen würde.
»Wow«, sagte Neil. »Da hast du ja heute Morgen schon ganz schön was erlebt. Tut mir wirklich leid, dass deine Indienreise so einen traurigen Anlass hat. Es ist wirklich ein faszinierendes Land, voller unglaublicher Gegensätze, das habe ich dir ja erzählt, als ich im Mai dort gewesen bin. Aber ich schätze, du fährst nicht gerade zum Vergnügen hin.« Neil war vor fünf Monaten als Redner auf einem Medizinerkongress in Neu-Delhi gewesen.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was an dieser Reise vergnüglich sein soll, und damit wären wir beim Thema Malaria. Was soll ich denn deiner Meinung nach unternehmen?«
»Aua«, erwiderte Neil und verzog das Gesicht. »Ich sag’s nur ungern, aber du hättest eigentlich schon vor einer Woche mit der Prophylaxe anfangen sollen.«
»Na ja, aber jetzt ist eben was völlig Unvorhergesehenes passiert. Alles andere habe ich, sogar eine Typhusimpfung, weil ich doch letztes Jahr auf der Inneren einen Typhuspatienten gehabt habe.«
Neil holte einen Rezeptblock aus seiner Schreibtischschublade und stellte ihr ein Rezept aus. Er reichte es ihr, und sie überflog es.
»Doxycyclin?«, las sie.
»Ist vielleicht nicht gerade das Beste, aber damit hast du einen sofortigen Schutz. Der entscheidende Vorteil ist, dass du es wahrscheinlich gar nicht brauchen wirst. Malaria ist nur im Süden Indiens ein wirklich ernsthaftes Problem.«
Jennifer nickte und steckte das Rezept in ihre Umhängetasche.
»Warum hat deine Großmutter sich eigentlich ausgerechnet in Indien operieren lassen?«
»Nur wegen der Kosten, nehme ich an. Sie war nicht krankenversichert. Und mein Vater, dieser Mistkerl, hat ihr bestimmt kräftig zugeredet.«
»Ich habe schon mal etwas über den medizinischen Tourismus nach Indien gelesen, aber bis jetzt kenne ich niemanden, der das auch gemacht hat.«
»Ich wusste nicht mal, dass es so was gibt.«
»Wo haben sie dich denn untergebracht?«
»Das Hotel heißt Amal Palace.«
»Wow!«, meinte Neil. »Das müsste ein Fünf-Sterne-Hotel sein.« Kichernd fügte er hinzu: »Pass gut auf. Die wollen dich bestimmt bestechen. War natürlich bloß Spaß. Sie müssen dich gar nicht bestechen. Eine der Kehrseiten des medizinischen Tourismus ist ja, dass man keinerlei Regressanspruch hat. So was wie einen Kunstfehler gibt es einfach nicht. Und wenn sie noch so viel Mist bauen, dir zum Beispiel das falsche Auge rausnehmen, oder wenn jemand durch einen Fehler oder durch reine Inkompetenz stirbt – du kannst überhaupt nichts dagegen machen.«
»Ich schätze mal, sie haben irgendeinen Deal mit dem Amal Palace Hotel. Da bringen sie eben alle ihre Leute unter. Ich meine, das ist ja keine Sonderbehandlung oder so. Sie übernehmen anscheinend ganz regulär die Flugkosten und das Hotel für einen Verwandten pro Patient. Darum bezahlen sie mir auch die Reise. Mein Vater, der elende Faulpelz, hat behauptet, er sei nicht reisefähig.«
»Tja, ich hoffe, dass diese Reise auch ihr Gutes hat«, sagte Neil. Er drückte Jennifer noch ein letztes Mal das Handgelenk. »Und halte mich auf dem Laufenden. Ruf mich an, wann immer du willst. Morgens, mittags, abends. Das mit deiner Großmutter tut mir wirklich sehr leid.« Er griff nach dem Stift und signalisierte, dass er sich wieder seiner Arbeit zuwenden musste.
»Ich hätte da noch eine Bitte«, sagte Jennifer und blieb sitzen.
»Na klar. Was gibt’s denn?«
»Könntest du dir vorstellen, mich zu begleiten? Ich glaube, ich brauche dich. Ich meine, ich bin da total fremd. Als ich neun Jahre alt war, da war ich mal in Kolumbien, aber abgesehen davon war ich noch nie außerhalb der Vereinigten Staaten, schon gar nicht in so
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