Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
einem exotischen Land wie Indien. Du warst ja erst kürzlich da, also müsstest du noch ein gültiges Visum haben. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das erleichtern würde. Ich weiß, das ist ziemlich viel verlangt, aber ich komme mir so provinziell vor. Früher war ich sogar nervös, wenn wir bloß einen Ausflug nach New Jersey gemacht haben. Das war jetzt nicht ganz ernst gemeint, aber ich bin wirklich alles andere als eine Weltreisende. Und ich weiß, dass deine Arbeit hier in der Notaufnahme zumindest den Vorteil hat, dass du jederzeit Urlaub nehmen kannst, vor allem, weil du ja vor ein paar Wochen für Clarence eingesprungen bist und er dir noch was schuldig ist.«
Seufzend schüttelte Neil den Kopf. Eine Flugreise nach Indien war wirklich so ungefähr das Letzte, was er jetzt machen wollte, selbst wenn er sich jederzeit freinehmen konnte. Das war ein wichtiger Grund dafür gewesen, dass er sich für die Notaufnahme entschieden hatte. Außerdem hatte er sich einen Dienstplan auf den Leib geschneidert, der ihm garantierte, dass seine Arbeitswoche am Montag um 7.00 Uhr begann und am Donnerstag um 7.00 Uhr beendet war, es sei denn, er wollte Überstunden machen. Die verbleibenden vier Wochentage waren dann für seine wahre Liebe reserviert, das Surfen. Jetzt freute er sich gerade auf ein Surfertreffen am Wochenende in San Diego. Es stimmte auch, dass sein Freund, Kollege und Surfer-Kumpel Clarence Hodges ihm nach einem Hawaii-Trip etwas schuldig war. Aber das spielte alles keine Rolle. Wegen einer toten Großmutter wollte Neil bestimmt nicht nach Indien fliegen. Wenn Jennifers Mutter gestorben wäre, dann vielleicht, ja, aber doch nicht bei ihrer Großmutter.
»Ich kann nicht«, sagte Neil nach einer Pause, so als hätte er tatsächlich kurz über ihren Vorschlag nachgedacht. »Tut mir leid, aber ich kann wirklich nicht. Zumindest nicht jetzt. Wenn du noch eine Woche warten könntest, dann vielleicht, aber jetzt ist gerade kein günstiger Zeitpunkt.« Dann deutete er auf den Dienstplan, den er gerade ausarbeitete, als ob der das Problem sei.
Jennifer reagierte verwundert und enttäuscht. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob sie ihn überhaupt fragen sollte und ob sie ihn wirklich brauchte. Was letztendlich den Ausschlag gegeben hatte, war die selbstkritische Frage gewesen, ob sie mit der Situation in Indien fertig werden würde. Ihr war klar, dass sie im Anschluss an den ersten Schock verschiedene Verdrängungsmechanismen in Gang gesetzt hatte: die Herumhetzerei, die Pläne für den Indien-Trip und auch das, was in der Psychologie als »Blockade« bezeichnet wird. Bis jetzt hatte das alles ganz gut funktioniert. Aber da sie ihrer Großmutter sehr nahegestanden hatte, fürchtete sie, ins Trudeln zu geraten, sobald ihr klar wurde, was dieser Verlust tatsächlich bedeutete. Sie hatte wirklich Angst, als emotionales Wrack in Indien anzukommen.
Jennifer durchbohrte Neil mit Blicken. Ihre Verwunderung und Enttäuschung hatten sich schlagartig in Wut verwandelt. Sie war sich angesichts ihres engen Vertrauensverhältnisses so sicher gewesen, dass er Ja sagen würde, wenn sie ihn direkt darum bat und ihm sogar gestand, dass sie ihn brauchte. Die Tatsache, dass er sie so prompt und mit einer solch fadenscheinigen und lächerlichen Ausrede abgewiesen hatte – etwas, was ihr umgekehrt in einer vergleichbaren Situation niemals in den Sinn gekommen wäre –, konnte nur bedeuten, dass ihre Beziehung nicht so war, wie sie gedacht hatte. Und das hieß nichts anderes, als dass auf ihn genauso wenig Verlass war wie auf die Männer im Allgemeinen.
Jennifer stand abrupt auf und ging ohne ein Wort des Abschieds aus dem winzigen Büro und zurück in die überfüllte Notaufnahme. Sie hörte, wie Neil ihren Namen rief, blieb aber nicht stehen und reagierte auch nicht. Es war ein Fehler gewesen, ihn ins Vertrauen zu ziehen, und das quälte sie. Und ihn zu bitten, ihr ein bisschen Geld zu leihen, daran war in dieser Situation nicht einmal zu denken.
Kapitel 6
Dienstag, 16. Oktober 2007
6.30 Uhr
Neu-Delhi, Indien
C al Morgan hatte einen festen Schlaf und brauchte deshalb einen sehr lauten Wecker. Darum benutzte er einen Radiowecker mit CD-Player, und zwar eine CD mit Marschmusik. Auf drei Viertel der vollen Lautstärke eingestellt, brachte der CD-Player das ganze Nachttischchen zum Vibrieren, so sehr, dass es sich selbst ebenso in Bewegung setzte wie die vielen Dinge, die darauf lagen. Sogar Petra, die die
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