Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
Konkurrenzsituation, von der Veena nicht den leisesten Schimmer hatte, hatte sich zwischen den beiden Mädchen eine intensive Freundschaft entwickelt, die auf dem gemeinsamen Wunsch basierte, eines Tages nach Amerika auszuwandern. Wie ihre anderen Schulfreunde hatten auch sie frühzeitig Zugang zum Internet gehabt. Samira hatte davon sehr viel stärker profitiert als Veena, aber dennoch war es für beide Mädchen ein Fenster in den Westen und eine Begegnung mit dem Konzept der Freiheit des Individuums gewesen. Im Teenageralter waren sie schließlich unzertrennlich geworden und hatten die intimsten Geheimnisse ausgetauscht. Dazu hatten auch Veenas Misshandlungen durch ihren Vater gehört, etwas, was sie nie zuvor irgendjemandem anvertraut hatte, aus Angst, dadurch Schande über ihre Familie zu bringen. Samiras Geheimnis bildete einen scharfen Kontrast zu Veenas. Sie war fasziniert von pornografischen Webseiten und folglich auch von Sex und empfand es, gerade weil es verboten war, als ausgesprochen schwierig, an irgendetwas anderes zu denken. Sie wollte unbedingt eigene sexuelle Erfahrungen machen und fühlte sich wie ein Tier im Käfig, besonders aufgrund ihrer strengen moslemischen Erziehung. Was letztendlich ihre Freundschaft festigte, war, dass sie einander gegenseitig den Rücken frei hielten. Jede erzählte ihren Eltern, dass sie bei der anderen übernachten wollte, und so konnten sie westlich orientierte Klubs besuchen und die ganze Nacht unterwegs sein. Anstatt sich den traditionellen indischen karmischen Werten der Passivität, des Gehorsams und der Akzeptanz der Schwierigkeiten des Lebens in Erwartung einer Belohnung im nächsten Leben zu verschreiben, hatte sich bei Samira und Veena zunehmend das Bedürfnis eingestellt, die Belohnung schon in diesem Leben zu bekommen.
Als Samira gestern erfahren hatte, dass Veena die neue Strategie als Erste in die Tat umsetzen sollte, hatte sie sofort eifersüchtig reagiert. Darum hatte sie sich freiwillig für die nächste Aufgabe gemeldet und sich fest vorgenommen, es besser und bedenkenloser zu machen. Der Grund für ihre Zuversicht lag in der Tatsache, dass es einen Bereich gab, in dem sie größere Fortschritte gemacht hatte als ihre Freundin. Sie hatte die alte Kultur Indiens schon sehr viel weiter hinter sich gelassen und war dafür tiefer in die neue Kultur des Westens eingetaucht. Ihre Affäre mit Durell war ein eindeutiger Beleg dafür.
Mit zitternden Händen stieß Samira die Tür zum fünften Stock auf. Es war relativ dunkel. Ein paar Sekunden lang stand sie nur da und lauschte. Bis auf das konstante und allgegenwärtige tiefe Brummen der Klimaanlage war nichts zu hören. Sie betrat den Flur und ließ die Tür hinter sich ins Schloss schnappen.
Anscheinend war sie allein. Samira ging in Richtung OP-Trakt und versuchte gleichzeitig, das Klacken ihrer Absätze auf dem Verbundfußboden auf ein Minimum zu reduzieren. Das gedämpfte Licht war völlig ausreichend. Als sie durch die äußere Doppeltür kam, versicherte sie sich, dass der Vorraum leer war. Sie wusste, dass er gelegentlich auch abends benutzt wurde und dass die Nachtschichtmitarbeiter hier manchmal Pause machten oder ein bisschen fernsahen, auch wenn das offiziell verboten war. Dann schlich sie auf die Doppeltür zu, die in den eigentlichen Operationsbereich führte, und schob sie einen Spaltbreit auf. Leider meldeten die Türangeln sofort kreischenden Protest an, und Samira zuckte zusammen. Sie fühlte das Hämmern ihres Herzens und konnte es sogar hören. Sie wartete kurz, ob das Türgeräusch irgendwelche Reaktionen auslöste, dann betrat sie den OP-Trakt. Die Tür glitt hinter ihr ins Schloss, und erneut war das Kreischen zu hören. Wieder zuckte sie zusammen. Doch sofort legte sich wieder Grabesstille wie eine schwere Decke über sie.
Samira wollte diesen Teil ihrer Aufgabe so schnell wie möglich hinter sich bringen. Trotz der stark herunter gekühlten Umgebungsluft spürte sie Schweißperlen auf ihrem Gesicht. Sie kannte dieses Gefühl der Angst nur zu gut – schließlich hatte sie als Teenager im Haus ihrer Eltern jahrelang ein Doppelleben geführt –, und es gefiel ihr überhaupt nicht.
Im OP angekommen und überzeugt, dass sie alleine war, machte sie sich ohne Umschweife daran, die Spritze mit Succinylcholin aufzuziehen. Das einzige potenzielle Problem bestand darin, dass ihr vor lauter Hetze beinahe die Glasflasche mit der Lähmungsdroge aus der Hand gefallen wäre. Wenn sie jetzt auf
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