Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
nächsten Stunden rede ich mit niemandem!«, schoss Jennifer zurück. Jetzt war sie wirklich wütend. Vorhin hatte sie lediglich den Eindruck gehabt, als wollte das Queen Victoria Hospital sie unter Druck setzen, aber jetzt war sie sich sicher. Auch wenn das durch die fehlenden Lagerkapazitäten einerseits verständlich war, erschien es ihr andererseits fast wie eine Provokation – vor allem die mangelnde Bereitschaft, über eine Obduktion zumindest nachzudenken, falls sie als nächste Angehörige eine solche Maßnahme wünschen sollte. »Ich rufe Sie an, sobald ich klarer denken kann, und ich komme wieder. Aber bis dahin möchte ich Sie warnen: Wenn Sie den Leichnam meiner Großmutter ohne meine Erlaubnis anrühren, dann kriegen Sie es mit einer ausgesprochen ungenießbaren Angehörigen zu tun.«
»Ungenießbar?« Kashmira war vollkommen ratlos.
Jennifer verdrehte die Augen. »Das heißt: stinkwütend.«
Kapitel 11
Mittwoch, 17. Oktober 2007
9.45 Uhr
Delhi, Indien
J ennifer starrte zum Seitenfenster des Mercedes hinaus. Sie war in ihre Gedanken so versunken, dass sie den Verkehr nicht einmal wahrnahm. In Wirklichkeit war sie schon sehr viel länger »stinkwütend«, als sie sich eingestanden hatte. Das Queen Victoria Hospital wollte sie eindeutig herumschubsen, und da sie im Lauf ihres relativ kurzen Lebens schon viel zu oft das Opfer gewesen war, behagte ihr diese Rolle überhaupt nicht. Sie abzuschütteln, war die bislang größte Herausforderung ihres Lebens gewesen. Das entscheidende Erlebnis hatte sie während der Mittelstufe gehabt, als Schule schwänzen und Prügeleien an der Tagesordnung gewesen waren. Ihre Großmutter, die eine ausgesprochen stolze Frau gewesen war, hatte damals keinen Ausweg mehr gewusst und daher etwas getan, was ihr normalerweise nicht in den Sinn gekommen wäre: Sie hatte jemanden um Hilfe gebeten. Dieser Jemand war Dr. Laurie Montgomery gewesen, eine Gerichtsmedizinerin aus New York. Jennifers Großmutter war vom ersten bis zum dreizehnten Lebensjahr ihr Kindermädchen gewesen und hatte sie praktisch großgezogen.
Damals hatte Jennifer es sehr seltsam gefunden, eine fremde Frau kennenzulernen, die zu ihrer Großmutter »Granny« sagte. Aber ihre Granny war schließlich zwölf Jahre lang Laurie Montgomerys Kindermädchen gewesen. Da war es nicht weiter verwunderlich, dass sie eine tiefe Zuneigung zu Granny empfand und sie im Grunde genommen als Familienangehörige betrachtete. Und darum hatte Granny sich an Laurie Montgomery gewandt und sie eindringlich gebeten, etwas zu unternehmen, um Jennifer vor einem Absturz zu bewahren.
Laurie schätzte Maria sehr und hatte sie ins Herz geschlossen, weshalb sie ihr gerne behilflich war. Also verschaffte sie der auf Abwege geratenen Jennifer in den Ferien ein einwöchiges Praktikum im Gerichtsmedizinischen Institut. Sie konnte sie überallhin begleiten und so ihre Arbeit genau kennenlernen. Lauries Kollegen waren skeptisch gewesen – ein zwölfjähriges Mädchen als Praktikantin in der Leichenhalle? –, aber sie hatte sich durchgesetzt, und das Resultat hatte sämtliche Erwartungen übertroffen. Das Ambiente in der Gerichtsmedizin war, um es mit Jennifers eigenen Worten zu sagen, so dermaßen »schräg« und »würg« gewesen, dass sie in ihrer pubertären Begeisterungsfähigkeit davon hin und weg war, zumal es auch ihre allererste Begegnung mit einem akademischen Beruf war. Bis zum dritten Tag absolvierte sie das ganze Praktikumsprogramm mit links, doch an diesem Tag wurde ein Mädchen in ihrem Alter eingeliefert, das von einer rivalisierenden Straßengang erschossen worden war.
Zum Glück nahm Jennifers Geschichte einen besseren Ausgang. Laurie und sie kamen sehr viel besser miteinander klar, als sie beide erwartet hatten, und so erkundigte sich Laurie sowohl bei ihrer jederzeit hilfsbereiten Mutter als auch bei ihrer alten Privatschule nach Möglichkeiten für ein Stipendium. Einen Monat später fand Jennifer sich in einem anspruchsvollen akademischen Umfeld ohne Verbindung zu irgendwelchen Straßenbanden wieder, und der Rest war Geschichte.
»Aber klar!«, platzte Jennifer heraus, so laut, dass der Fahrer vor Schreck zusammenzuckte.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Madam?«, erkundigte er sich mit einem Blick in den Rückspiegel.
»Nein, nein, alles bestens«, erwiderte Jennifer und durchwühlte ihre Handtasche auf der Suche nach ihrem Handy. Sie hatte keine Ahnung, was ein Anruf nach New York kostete, aber das war ihr
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