Montgomery & Stapleton 08 - Die Hand des Bösen
Untertasse in die Tischmitte und stand auf. Während Kashmira sich ebenfalls erhob, blieb Jennifer kurz stehen und ließ einen kleinen Schwindelanfall verstreichen.
Mit einem der leisen, hochmodernen Fahrstühle fuhren sie ins Kellergeschoss. Dort befanden sich die Maschinenräume, eine moderne Personal-Cafeteria, ein Umkleideraum sowie diverse Lagerräume. Am Ende des Mittelgangs, jenseits der Cafeteria, war eine Frachtschleuse zu erkennen, neben der ein älterer Wachmann in einer zu großen Uniform gegen die Wand gelehnt auf einem Stuhl saß. Es gab insgesamt zwei Kühlräume, die beide auf der Fahrstuhlseite lagen. Ohne weiteren Kommentar brachte Kashmira Jennifer zu dem näher gelegenen und versuchte mühsam, die Tür aufzumachen. Jennifer ging ihr zur Hand. Es war, genau, wie Kashmira gesagt hatte, alles andere als eine Leichenkühlkammer. Im Inneren waren auf den gesamten zwölf Metern Länge Regale angebracht, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Ein kurzer Blick reichte Jennifer, um zu erkennen, dass darin überwiegend in Plastik verschweißte Lebensmittel und ebenfalls luftdicht verpackte Medikamente lagerten, die gekühlt werden mussten. In der Mitte stand eine Krankenbahre. Die Gestalt, die darauf lag, war mit einem sauberen Krankenhauslaken bedeckt. Es roch ein wenig eklig.
»Es ist ziemlich voll da drin«, sagte Kashmira. »Vielleicht möchten Sie alleine hineingehen.«
Ohne ein Wort zu sagen, trat Jennifer ein. Die Temperatur schien irgendwo um null Grad Celsius zu liegen. Jetzt, wo sie tatsächlich neben ihrer Großmutter stand, war sie sich nicht mehr so sicher, ob sie sie sehen wollte. Sie hatte zwar das Gegenteil behauptet, aber in Wirklichkeit hatte Jennifer, die Medizinstudentin, sich nie so recht an den Anblick toter Körper gewöhnen können, obwohl sie als Schülerin sogar einmal ein einwöchiges Praktikum in einer Leichenhalle gemacht hatte. Sie blickte zurück zu der Patientenbetreuerin, die ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen erwiderte, so als wollte sie sagen: Na? Schaust du sie dir jetzt an, oder was?
Jennifer war klar, dass sie es nicht länger hinauszögern konnte. Sie griff nach einer Ecke des Tuchs und hob es hoch, kämpfte mit den Tränen und enthüllte das Gesicht ihrer Großmutter. Der erste Schock lag darin, dass sie so normal aussah. Sie schien ganz die warme, großzügige weißhaarige Großmutter und die immer verständnisvolle und jederzeit an ihrer Seite stehende Verbündete zu sein, als die Jennifer sie gekannt hatte. Doch bei genauerem Hinsehen wurde ihr klar, dass es nicht das Neonlicht war, das ihrer Haut und ihren Lippen dieses gipsartige Aussehen verlieh. An ihrem Hals war ein dunkelvioletter Leichenfleck zu erkennen. Ihre Haut besaß eine leblose, durchscheinende, fleckige, pfirsichartige Färbung. Ihre Großmutter war ohne jeden Zweifel tot.
Jennifers Trauer schlug wieder in Wut um. Sie ließ das Laken sinken und schaute Kashmira Varini an. Das falsche Mitleid dieser Frau machte sie noch wütender. Als sie den Kühlraum verließ und sah, wie Kashmira mühsam versuchte, die schwere Tür zu schließen, bot sie ihr keine Hilfe an.
»Also!«, sagte Kashmira, nachdem das Türschloss eingerastet war und sie sich die Hände abgewischt hatte. »Sie sehen ja, warum Ihre geliebte Großmutter nicht mehr länger hier bleiben kann.«
»Gibt es schon einen Totenschein?«, erkundigte sich Jennifer, anscheinend völlig unvermittelt. Ihr war mit einem Mal eingefallen, welches Schicksal Mr Benfatti erlitten hatte.
»Selbstverständlich. Sowohl für die Einäscherung als auch für die Einbalsamierung ist ein Totenschein zwingend erforderlich. Der Arzt, der Mrs Maria Hernandez operiert hat, hat den Totenschein unterzeichnet.«
»Und die Todesursache war eindeutig ein Herzinfarkt?«
»Ja.«
»Was war der Auslöser für den Herzinfarkt?«
Einige wenige Sekunden lang starrte Kashmira Jennifer an, erschüttert, verärgert oder vielleicht auch einfach nur frustriert. Jennifer wusste nicht, ob das an ihrer Frage lag oder womöglich daran, dass Kashmira ihre Vorbehalte gegen eine zügige Beseitigung des Leichnams als Verzögerungstaktik empfand.
»Ich weiß nicht, was die Ursache für den Herzinfarkt Ihrer Großmutter war. Ich bin keine Ärztin.«
»Ich werde bald Ärztin sein, und ich kann mir auch nicht vorstellen, was diesen Infarkt ausgelöst haben soll. Ihr gutes Herz war, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn, eine ihrer herausragenden Eigenschaften.
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