Montgomery & Stapleton 10 - Testphase
gab also keine Tränen. Und Laurie, die nicht mehr so angespannt war wie am Tag zuvor, hatte es geschafft, alles vorzubereiten, bevor Leticia kam.
»Guten Morgen, Dr. Laurie!«, trällerte Marlene Wilson in der für sie typischen Art. Laurie erwiderte den Gruß und wurde in den Identifizierungsraum durchgelassen.
Sie stürmte rasch in das Zimmer und schmiss ihren Mantel auf einen der zu prall gepolsterten Vinylstühle. Dann machte sie abrupt Halt. Es hätte der vergangene Tag sein können! Dieselben Menschen befanden sich in genau den Positionen und taten dieselben Dinge wie gestern: Arnold Besserman saß an seinem Schreibtisch und ging durch die Akten der Leichen, die letzte Nacht eingeliefert worden waren. Vinnie Amendola saß in demselben Sessel wie am Tag zuvor und war genauso vertieft in seine Zeitung. Aber am meisten überraschte es sie, dass Lou Soldano auch wieder dabei war, fest eingeschlafen, mit seinen Füßen auf dem Heizkörper, der oberste Hemdknopf stand offen, seine Krawatte war gelöst.
Arnold war der einzige, der sie wahrnahm. Er grüßte sie eher flüchtig, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Nach der Begrüßung sagte er noch: »Ich danke dir wirklich sehr, dass du den Unbekannten gestern Morgen übernommen hast.«
»Gern geschehen«, erwiderte Laurie auf ihrem Weg zur Kaffeemaschine. »Langsam entwickelt er sich zu einem außergewöhnlichen Fall.«
»Das freut mich«, sagte Arnold in einem Ton, der jede weitere Diskussion unterband.
»Auch gut …«, dachte Laurie bei sich. Sie hätte mehr erklären wollen, wenn Arnold gefragt hätte, aber sie war froh, dass er es nicht getan hatte, weil sie ja beschlossen hatte, mit niemandem über ihren Fall zu reden, besonders nicht mit Jack, bis sie mehr über die Todesursache herausfand. Über Nacht hatte ihre Kreativität eine neue Vermutung entwickelt, für die es nötig war, die äußerliche Untersuchung zu wiederholen.
»Wo ist Jack?«, wollte Laurie wissen.
»Hab ihn noch nicht gesehen«, antwortete Arnold. »Ist er denn nicht mit dir gekommen?«
»Er ist wieder auf sein Fahrrad umgestiegen«, sagte Laurie.
»Dieser Narr«, kommentierte Arnold.
Laurie antwortete nicht. Obwohl sie mit ihm einer Meinung war, was das Fahrradfahren betraf, fand sie, dass es Arnold nicht zustand, Jack zu kritisieren. Um das Thema zu wechseln, erkundigte sie sich, warum sich Lou zwei Tage hintereinander im OCME einfand.
»Er kam mit einem wahren Prachtexemplar, einem Schwimmer, um genau zu sein, und einem weiteren nicht identifizierten Individuum.«
»Oh?«, fragte Laurie. Ihre Neugier war sofort geweckt. Ein Schwimmer bedeutete, jemand hatte eine Leiche aus dem Wasser gefischt. Da es rund um New York eine Menge Wasser gab – schließlich war Manhattan eine Insel – tauchten des öfteren Schwimmer auf. Tatsächlich waren es so viele, dass dieser hier ein besonderer Fall sein musste, wenn er so viel Aufmerksamkeit erregte, dass es reichte, einen Detective Captain die ganze Nacht wachzuhalten. Während Laurie sich Zucker in den Kaffee löffelte, entschloss sie sich, mehr über diese Geschichte herauszufinden.
»Eigentlich gibt’s da keine großartige Geschichte«, sagte Arnold, schloss eine Akte und legte sie auf den To-Do-Haufen. »Ich meine, er wurde bei Governor’s Island aus dem Wasser gefischt, das ist ja eher nicht ungewöhnlich. Das Ungewöhnliche ist, dass die, die den Körper gesehen haben, meinen, er solle im Museum of Modern Art ausgestellt werden. Der Körper soll übersät sein mit unzähligen Tätowierungen, vom Hals bis zu den Knöcheln und überall dazwischen. Ich habe ihn selbst noch nicht gesehen, aber so wurde er mir beschrieben. Wenn ich hier fertig bin, werde ich mal einen Blick auf ihn werfen.«
»Kennt man den ethnischen Hintergrund?«, fragte Laurie.
»Asiatisch.«
»Was scheint die Todesursache zu sein? Ertrinken?«
»Nein. Der Beschreibung in der Akte nach gibt es viele Schusswunden. Die MLI schrieb, dass sie den Verdacht hat, jemand hat von hinten mit einem Maschinengewehr auf ihn geschossen, weil er ein Dutzend Eintrittswunden auf dem Rücken hat.«
»Wow. Wer immer ihn umgebracht hat, wollte ganz sichergehen, dass er wirklich tot ist«, war Lauries Kommentar. Sie erinnerte sich an einen anderen Fall, über den sie in einem medizinischen Fachblatt gelesen hatte und der über einen Japaner mit bemerkenswerten Tätowierungen war, in dem viele Schusswunden gefunden wurden und der mit einer Katana , dem traditionellen japanischen
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