Montgomery u Stapleton 01 - Blind
untersuchte auch die übrigen Nägel, entdeckte aber keine weiteren Gewebespuren. Aus dem Sektionssaal holte sie zwei Probenbehälter und ein Skalpell. Sie ging zurück, entfernte etwas von dem Gewebe und tat es in einen der Behälter. Mit dem Skalpell schnitt sie eine kleine Hautprobe aus dem Rand der Obduktionswunde und gab sie in den anderen Behälter.
Nachdem sie Julias Körper wieder zugedeckt hatte, trug sie die beiden Proben nach oben ins DNA-Labor, wo sie sie kennzeichnete und eintrug. Auf dem Anforderungsformular bat sie um einen Vergleich. Auch wenn es ziemlich offensichtlich war, daß die Frau sich die Kratzwunden selbst beigebracht hatte, hielt Laurie das für überprüfenswert. Es bestand kein Grund, sorglos zu sein, nur weil sich die Arbeit im Institut staute.
Laurie ging in ihr Büro zurück. Sie wollte die Ruhe nutzen, um einen Teil ihrer Schreibtischarbeit zu erledigen, die sie vernachlässigt hatte. Noch immer ein wenig mitgenommen von ihrer eigenartigen Reaktion auf das Zuschlagen der Tür im Kühlraum, war sie schlecht vorbereitet auf das, was sie in ihrem Büro erwartete. Als sie gedankenverloren zur Tür hereintrat, sprang eine Gestalt laut rufend auf sie zu.
Laurie schrie wie von Sinnen auf. Es war ein Reflex von solcher Kraft, daß der Schrei im Korridor widerhallte. Sie hatte keine Kontrolle mehr über sich. Ihr Herz hämmerte wie wild.
Doch der Angriff, den Laurie befürchtet hatte, erfolgte nicht. Ihr Gehirn korrigierte blitzschnell die Botschaft und teilte ihr mit, daß die unheimliche Gestalt "Buuuh!" gerufen hatte kaum das, was man von einem irren Lustmörder oder einem übernatürlichen Dämon erwarten würde. Und im selben Moment identifizierte ihr Gehirn das Gesicht als das von Lou Soldano.
All das war in Sekundenbruchteilen abgelaufen, und als Laurie schließlich zu einer Reaktion fähig war, war ihre Angst in Wut umgeschlagen.
"Lou!" schrie sie. "Warum haben Sie das getan?"
"Habe ich Sie erschreckt?" fragte Lou einfältig. Er sah, daß ihr Gesicht weiß wie die Wand geworden war. In seinen Ohren klang immer noch ihr Schrei.
"Erschreckt?" schrie sie ihn an. "Sie haben mich zu Tode geängstigt. Tun Sie so etwas nie wieder!"
"Es tut mir leid", sagte Lou zerknirscht. "Ich glaube, es war kindisch. Aber dieses Haus macht mir angst; ich dachte, ich könnte mich ein wenig revanchieren."
"Ich könnte Ihnen eins auf die Nase geben", schimpfte Laurie und hielt Lou eine geballte Faust vor das Gesicht. Ihr Zorn war schon verflogen, vor allem weil er sich reumütig entschuldigt hatte. Sie ging um den Schreibtisch herum und ließ sich in ihren Sessel fallen. "Was um alles in der Welt machen Sie überhaupt um diese Zeit hier?" fragte sie.
"Ich bin zufällig hier vorbeigefahren", erklärte Lou. "Und da ich etwas mit Ihnen besprechen möchte, habe ich an der Laderampe vom Leichenschauhaus gehalten, auf den Verdacht hin, daß Sie noch hier sind. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, aber der junge Mann unten sagte mir, daß Sie eben bei ihm gewesen wären."
"Und worüber wollten Sie mit mir sprechen?"
"Über Ihren Freund Jordan", sagte Lou.
"Er ist nicht mein Freund", fauchte Laurie ihn an. "Sie bringen mich wirklich auf die Palme, wenn Sie ihn immer so nennen."
"Wo liegt das Problem?" fragte Lou. "Mir scheint das eine recht genaue Bezeichnung zu sein. Schließlich gehen Sie jeden Abend mit ihm aus."
"Was ich privat mache, geht nur mich etwas an", erwiderte Laurie. "Aber zu Ihrer Information, ich gehe nicht jeden Abend mit ihm aus. Heute abend zum Beispiel nicht."
"Nun, zwei von drei Abenden ist auch nicht schlecht", sagte Lou. "Aber kommen wir zum Geschäftlichen: Ich wollte Ihnen mitteilen, daß ich mit Jordan darüber gesprochen habe, daß seine Patienten von Profis abgeschossen werden."
"Und was hatte er dazu zu sagen?"
"Gar nichts. Er hat sich geweigert, Näheres über seine Patienten mitzuteilen."
"Sein gutes Recht."
"Aber wichtiger als das, was er gesagt hat, war, wie er sich verhalten hat. Er war die ganze Zeit, in der ich dort war, sehr nervös. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll."
"Sie glauben doch nicht, daß er in irgendeiner Weise etwas mit diesen Morden zu tun hat, oder?"
"Nein", bestätigte Lou. "Seine Patienten ausnehmen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht, ja, aber sie umbringen, nein. Doch er war eindeutig nervös. Irgendwas beunruhigt ihn. Ich glaube, er weiß etwas."
"Ich meine, er hat Grund genug, nervös zu sein. Hat er Ihnen erzählt,
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