Montgomery u Stapleton 01 - Blind
später trafen sie sich in der Halle. Laurie trug den grünen Sektionskittel, darüber die undurchlässige Schutzkleidung und eine große Schürze. Die Schuhbezüge hatte sie übergestreift. Auf dem Kopf trug sie eine Haube. Um den Hals hing eine Gesichtsmaske. Lou trug einen Sektionskittel, eine Haube und eine Gesichtsmaske.
"Sie sehen wie einer der Ärzte aus", meinte Laurie, als sie Lou betrachtete, um sicherzustellen, daß er richtig gekleidet war.
"Ich komme mir vor, als würde ich zu einer Operation gehen und nicht zu einer Autopsie", sagte Lou. "Beim letztenmal habe ich das alles gar nicht angehabt. Muß ich diese Maske wirklich tragen?"
"Im Sektionssaal trägt jeder eine Maske", erklärte Laurie. "Wegen AIDS und anderer Infektionsgefahren wurden die Vorschriften verschärft. Wenn Sie keine Maske trügen, würde Calvin Sie eigenhändig rausschmeißen."
Sie gingen den Hauptgang des Leichenschauhauses entlang, vorbei an der Edelstahltür zum begehbaren Kühlraum und der langen Reihe der einzelnen Kühlkammern. Die Kühlkammern bildeten ein großes U in der Mitte des Leichenschauhauses.
"Ein wirklich grauenhafter Ort", bemerkte Lou.
"Ich glaube schon", meinte Laurie. "Aber wenn man es gewöhnt ist, ist es nicht mehr ganz so schlimm."
"Sieht aus wie der Schauplatz für einen Horrorfilm", sagte Lou.
"Wer hat eigentlich diese blauen Fliesen für die Wände ausgesucht? Und was ist mit dem Zementfußboden? Warum ist der nicht versiegelt? Sehen Sie mal die vielen Flecken."
Laurie blieb stehen und betrachtete den Boden. Obwohl er gescheuert worden war, waren die Flecken nicht zu übersehen.
"Er sollte schon längst gefliest werden", sagte sie."Das ist irgendwo im New Yorker Bürokratismus verschlampt worden. Jedenfalls hat man mir das erzählt."
"Und was sollen all die Särge hier?" fragte Lou. "Macht sich richtig gut." Er deutete auf eine Ansammlung einfacher Kiefernkisten, die sich fast bis zur Decke stapelten. Andere standen hochkant.
"Das sind die Anonymensärge", erklärte Laurie. "In New York können viele Tote nicht identifiziert werden. Wir bewahren sie nach der Autopsie noch einige Wochen im Kühlraum auf. Wenn sich keine Verwandten melden, werden sie schließlich auf Staatskosten beerdigt."
"Das sieht ja aus wie auf einem Flohmarkt. Könnte man die Särge nicht irgendwo anders lagern?" fragte Lou.
"Wahrscheinlich nicht", meinte Laurie. "Ich habe, glaube ich, nie darüber nachgedacht. Ich bin gewohnt, daß sie da stehen."
Sie ging voraus in den Sektionssaal und hielt Lou die Tür auf. Anders als am Vortag lagen jetzt auf allen Tischen Leichen, an deren großem Zeh ein Schildchen befestigt war. An fünf Tischen wurde bereits gearbeitet.
"Oh, Dr. Montgomery fängt schon vor dem Mittagessen an", witzelte einer der Ärzte.
"Kluge Leute prüfen erst das Wasser, bevor sie reinspringen", konterte Laurie.
"Sie sind an Tisch sechs", rief einer der Sektionsgehilfen ihr von einem Waschbecken zu, wo er gerade ein Stück Darm auswusch.
Laurie blickte sich zu Lou um, der in der Tür stehengeblieben war. Sie merkte, daß er einige Male schluckte. Obwohl er behauptet hatte, er sei schon bei Autopsien dabeigewesen, hatte sie das Gefühl, daß diese "Fließband"-Arbeit etwas viel für ihn war. Da gerade ein Darm ausgewaschen wurde, roch es auch nicht besonders angenehm.
"Sie können jederzeit rausgehen", wandte sich Laurie an ihn.
Lou hob eine Hand. "Es geht schon", erwiderte er. "Wenn Sie das aushalten, kann ich das auch."
Laurie ging zum Tisch sechs. Lou folgte ihr. Vinnie Amendola trat zu ihnen, ebenfalls in vorgeschriebener Schutzkleidung.
"Heute sind wir zusammen, Dr. Montgomery", sagte Vinnie.
"Fein", sagte Laurie. "Holen Sie schon mal alles, was wir brauchen, dann fangen wir gleich an."
Vinnie nickte und ging zu den Instrumentenschränken.
Laurie legte die Notizunterlagen so, daß sie gut erreichbar waren, dann blickte sie auf Duncan Andrews. "Ein gutaussehender Mann", sagte sie.
"Ich habe gedacht, Ärzte machen sich solche Gedanken überhaupt nicht", meinte Lou. "Ich dachte, Sie schalten alle irgendwie auf neutral oder so."
"Kaum", sagte Laurie. Duncans bleicher Körper lag wie im Schlaf auf dem Stahltisch. Die Augen waren geschlossen. Das einzige, was neben der wachsweißen Farbe sein Aussehen beeinträchtigte, waren die Abschürfungen an den Unterarmen. Laurie zeigte darauf. "Diese tiefen Kratzspuren sind wahrscheinlich die Folge des sogenannten Ameisenkriechens. Das ist eine taktile
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