Montgomery u Stapleton 01 - Blind
und klar, und die Bäume im Central Park hatten wie ein Farbenmeer geleuchtet. Sie war am Metropolitan Museum vorbeigelaufen, dessen Fahnen im böigen Wind heftig geschlagen hatten. Sie war links in die 84th Street eingebogen und in das Wohnhaus ihrer Eltern an der Westseite der Park Avenue getreten.
"Ich bins", rief Laurie und warf ihre Schultasche auf den Tisch in der Diele. Es kam keine Antwort. Alles, was sie hörte, war der Verkehr auf der Park Avenue mit dem unablässigen Plärren der Taxihupen.
"Ist jemand da?" rief Laurie und hörte ihre Stimme durch die Flure hallen. Überrascht, daß die Wohnung leer war, ging sie durch das Anrichtezimmer in die Küche. Selbst Holly, das Hausmädchen, war nirgends zu sehen. Doch dann fiel Laurie ein, daß Freitag war, Hollys freier Tag.
"Shelly!" rief Laurie. Ihr älterer Bruder war das lange Wochenende zum Columbus Day vom College nach Hause gekommen. Laurie erwartete, ihn entweder in der Küche oder im Arbeitszimmer zu finden. Sie sah im Arbeitszimmer nach; dort war niemand, aber der Fernseher lief ohne Ton.
Einen Augenblick sah sie sich die stummen Gesten irgendeiner Spielesendung an. Sie fand es seltsam, daß der Fernseher lief. Da sie annahm, daß vielleicht jemand zu Hause war, setzte sie ihren Rundgang durch die Wohnung fort. Aus irgendeinem Grund erfüllten die stillen Zimmer sie mit einer Vorahnung. Von Unruhe und Angst getrieben, beschleunigte sie ihre Schritte.
Vor Shellys Schlafzimmertür blieb Laurie zögernd stehen. Dann klopfte sie. Als keine Antwort kam, klopfte sie noch einmal. Als immer noch keine Antwort kam, drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Laurie stieß sie auf und trat in das Zimmer.
Vor ihr auf dem Boden lag ihr Bruder Shelly. Sein Gesicht war so wächsern wie das elfenbeinfarbene Geschirr in der Vitrine im Eßzimmer. Blutiger Schaum lief aus der Nase. Um den Oberarm war eine Gummimanschette gebunden. Auf dem Boden, fünfzehn Zentimeter von seiner halb geöffneten Hand entfernt, lag eine Spritze, die Laurie am Vorabend gesehen hatte. Auf dem Schreibtisch lag am Rand ein Zellophantütchen. Nach dem, was Shelly ihr am Vorabend erzählt hatte, war ihr ziemlich klar, was es enthielt. Es mußte das "Speedball" sein, auf das er so stolz gewesen war, eine Mischung aus Kokain und Heroin.
Stunden danach am selben Tag machte Laurie die schlimmste Auseinandersetzung ihres Lebens durch das hochrote, wutverzerrte Gesicht ihres Vaters mit vorquellenden Augen Zentimeter vor dem ihren. Er war außer sich. Seine Finger bohrten sich in ihre Haut, als er sie an den Oberarmen festhielt. Ein paar Schritte weiter weinte ihre Mutter in ein Taschentuch.
"Hast du gewußt, daß dein Bruder Rauschgift genommen hat?" wollte ihr Vater wissen. "Hast du es gewußt? Antworte!" Sein Griff wurde fester.
"Ja", stieß Laurie hervor. "Ja, ja!"
"Warum hast du uns nichts gesagt?" schrie ihr Vater. "Wenn du etwas gesagt hättest, wäre er noch am Leben."
"Ich konnte nicht", schluchzte Laurie.
"Wieso nicht?" schrie ihr Vater. "Sag mir, wieso!"
"Weil
" Laurie weinte. Sie stockte, dann sagte sie: "Weil er mir gesagt hat, ich solle nichts erzählen. Ich mußte es ihm versprechen."
"Und dieses Versprechen hat ihn das Leben gekostet", zischte er. "Es hat ihn genauso umgebracht wie das verfluchte Rauschgift."
Laurie spürte, wie eine Hand ihren Arm packte, und sie fuhr zusammen. Der Schreck brachte sie in die Gegenwart zurück. Sie zwinkerte ein paarmal mit den Augen, als erwachte sie aus einer Trance.
"Geht es Ihnen nicht gut?" fragte Lou. Er war aufgestanden und hatte Lauries Arm gefaßt.
"Doch, doch", erwiderte Laurie ein bißchen verlegen. Sie befreite sich aus Lous Griff. "Wo waren wir stehengeblieben?" Ihr Atem hatte sich beschleunigt. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. Sie blickte auf die Papiere vor sich und versuchte sich zu entsinnen, was diese alten, schmerzlichen Erinnerungen wachgerufen hatte. Als wäre es gestern gewesen, empfand sie erneut den quälenden Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem Bruder und den Eltern und die furchtbare Schuld und Last, sich für erstere entschieden zu haben.
"Woran haben Sie gedacht?" fragte Lou. "Sie waren ganz woanders."
"Daran, daß das Opfer von seiner Freundin gefunden wurde", erklärte Laurie, als ihr Blick wieder auf den Namen Sara Wetherbee fiel. Sie hatte nicht vor, diesem Lieutenant ihre Gedanken anzuvertrauen. Bis heute fiel es ihr schwer, mit Freunden über das
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