Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Sie darauf hinweisen, daß wir im Fall Duncan Andrews vom Büro des Bürgermeisters ziemlich unter Druck gesetzt worden sind. Der Verstorbene hatte offenbar einflußreiche politische Verbindungen. Wir müssen uns also kooperativ zeigen. Bitte, achten Sie ganz besonders auf die Möglichkeit einer natürlichen Todesursache, so daß Sie die Drogen runterspielen können. Die Familie hätte es lieber so."
Laurie sah Calvin an und wartete wohl darauf, daß er gleich breit grinsen und erklären würde, daß alles nur ein Scherz war. Doch Calvin blieb unverändert ernst.
"Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstehe", sagte Laurie.
"Sehr viel klarer kann ich mich nicht ausdrücken", meinte Calvin. Seine berüchtigte Ungeduld kam zum Vorschein.
"Wollen Sie, daß ich lüge?" fragte Laurie.
"Himmel noch mal, nein, Dr. Montgomery!" fuhr Calvin sie an.
"Was soll ich noch alles machen? Ihnen eine Karte zeichnen? Ich bitte Sie lediglich darum, so weit zu gehen, wie Sie können, okay? Finden Sie irgendwas, einen Koronarthrombozyten, ein Aneurysma, irgendwas, und das geben Sie an. Und tun Sie nicht so überrascht oder selbstgerecht. Bei uns spielt auch die Politik eine Rolle, und je eher Sie das begreifen, desto besser für uns alle. Tun Sies einfach."
Calvin machte kehrt und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
Lou pfiff durch die Zähne und setzte sich wieder. "Energischer Bursche", bemerkte er.
Laurie schüttelte ungläubig den Kopf. Sie wandte sich an Riva, die ihre Arbeit nicht unterbrochen hatte. "Hast du das gehört?" fragte Laurie.
"Ich hab das auch schon einmal erlebt", sagte Riva, ohne aufzublicken. "Bei mir war es allerdings ein Selbstmord."
Mit einem Seufzer ließ Laurie sich in ihren Schreibtischsessel fallen und sah Lou an. "Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, Integrität und ethische Grundsätze politischer Opportunität zu opfern."
"Ich glaube, das hat Dr. Washington gar nicht von Ihnen verlangt", meinte Lou.
Laurie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. "Nicht? Tut mir leid, aber ich meine schon."
"Ich will Ihnen nicht in Ihre Arbeit reinreden", sagte Lou, "aber ich habe es so aufgefaßt, daß Dr. Washington möchte, daß Sie irgendeine mögliche natürliche Todesursache, die Sie finden, in den Vordergrund stellen. Alles andere kann der Auslegung überlassen werden. Aus irgendeinem Grund macht das einen Unterschied in diesem Fall. Die Welt der Wirklichkeit gegen die Welt des Anscheins."
"Mir scheint, Sie sind ganz schön abgestumpft gegen das Frisieren von Details", sagte Laurie. "In der Pathologie erwartet man von uns, daß wir uns an die Wahrheit halten."
"Kommen Sie", erwiderte Lou. "Was ist denn die Wahrheit? Es gibt fast in allen Bereichen des Lebens Grauzonen, warum nicht auch beim Tod? Bei meiner Arbeit geht es zufälligerweise um Gerechtigkeit. Es ist ein Ideal. Und ich strebe es an. Aber wenn Sie meinen, daß die Politik nicht manchmal entscheidend darauf Einfluß nimmt, wie die Gerechtigkeit angewandt wird, lügen Sie sich selbst in die Tasche. Zwischen Recht und Gerechtigkeit klafft immer eine Lücke. Kommen Sie wieder auf den Teppich."
"Mir gefällt das gar nicht", sagte Laurie.
"Das muß es auch gar nicht", sagte Lou. "Das gefällt kaum jemandem."
Laurie schlug die Mappe mit den Unterlagen über Duncan Andrews auf. Sie blätterte sie durch, bis sie zum Untersuchungsbericht kam. Nachdem sie ihn gelesen hatte, blickte sie zu Lou auf.
"So langsam verstehe ich die Zusammenhänge", erklärte sie.
"Der Verstorbene war irgend so ein Finanzgenie, Vizepräsident einer Investitionsbank und erst fünfunddreißig. Und oben auf der Seite ist hier angemerkt, daß sein Vater für den Senat kandidiert."
"Politischer kann es kaum sein", meinte Lou.
Laurie nickte und las dann im Untersuchungsbericht weiter. Als sie zu der Stelle kam, wo angegeben war, wer den Verstorbenen am Ort des Geschehens identifiziert hatte, fand sie den Namen Sara Wetherbee. In den freien Raum, der für die Angabe der Beziehung der Zeugin zum Verstorbenen gelassen war, hatte der Untersuchungsbeamte "Freundin" gekritzelt.
Laurie schüttelte den Kopf. Einen Menschen an Drogen sterben zu sehen, der einem nahestand, die Vorstellung ließ häßliche Erinnerungen bei ihr aufkommen. Ihre Gedanken eilten siebzehn Jahre zurück in die Zeit, als sie fünfzehn und im ersten Jahr auf der Langley School gewesen war. Sie erinnerte sich an den herrlichen sonnigen Tag, als wäre es gestern gewesen. Es war Herbst gewesen, frisch
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