Monuments Men
WENDEPUNKTE
Kleve, 10. März 1945
Paris, 14. März 1945
In Kleve beaufsichtigte Ronald Balfour, der britische Monuments Man, welcher der 1. kanadischen Armee zugeteilt war, das Verpacken der Kunstschätze der Christus-König-Kirche, die durch Bomben stark beschädigt worden war und einzustürzen drohte. Wie stets war das Material knapp, und das einzige Verkehrsmittel in der Stadt waren hölzerne Handkarren. Nun mussten vier deutsche Zivilisten einen voll beladenen Handkarren zum Bahnhof von Kleve ziehen, damit die Objekte für eine Übergangszeit weggebracht werden konnten.
Mit einem Lastwagen würde das viel schneller gehen, dachte Balfour. Aber seit seinem Lastwagenunfall Ende November 1944, durch den er fast zwei Monate hatte pausieren müssen, war alles noch komplizierter geworden. Die beiden Offiziere, mit denen er in der 1. kanadischen Armee zu tun gehabt hatte, waren durch andere ersetzt worden, und die neuen Männer hatten stets eine Ausrede parat. Einmal sagten sie, die Armee habe keine freien Fahrzeuge. Dann wurde ihm mitgeteilt, er könne keinen neuen Lastwagen erhalten, weil ihm der alte abhanden gekommen sei. Er entdeckte den alten Laster auf dem Parkplatz am Lager, aber man sagte ihm, dass es nicht genüge, den alten Lastwagen ausfindig zu machen; er benötige eine »BRL-Bescheinigung« — was immer das sein mochte –, um einen neuen beantragen zu können. Die neuen Offiziere weigerten sich natürlich, ihm diese Bescheinigung auszustellen. Schließlich bekam er sie doch noch, erhielt aber dennoch keinen neuen Lastwagen, weil die MFAA in der letzten Fahrzeugzuteilung nicht berücksichtigt worden war.
Seit Längerem hatte Balfour nichts mehr von der Brügger Madonna gehört. Angesichts der chaotischen Situation in Belgien war das auch nicht verwunderlich. Auf eigenartige Weise verstärkte das Fehlen von Informationen den Reiz dieser besonderen Arbeit. Das erschien angemessen, da auch die Figur selbst lange Zeit von Geheimnissen umgeben gewesen war. Michelangelo hatte darauf bestanden, dass niemand dieses Werk ohne seine Erlaubnis sehen dürfe. Die Skulptur konnte also nicht einfach öffentlich ausgestellt werden. Einige Kunsthistoriker vermuteten dies habe daran gelegen, dass der Meister von der Qualität des vollendeten Werkes nicht überzeugt gewesen sei, aber es gibt eine wesentlich näherliegende Erklärung. Die Skulptur war dem Papst versprochen worden, wurde aber heimlich an die flämische Kaufmannsfamilie Mouscron verkauft, als der junge Michelangelo, der damals erst Anfang zwanzig war, von dieser Familie ein Kaufangebot erhielt, das er nicht ablehnen konnte. 173
Die Familie Mouscron ließ die Skulptur 1506 von Italien in ihre Heimatstadt Brügge schaffen. Im 15. Jahrhundert war Brügge ein Handelszentrum und die Heimat von drei der berühmtesten Künstler Flanderns gewesen – der Gebrüder van Eyck, die den von Hitler begehrten Genter Altar geschaffen hatten, sowie von Hans Memling, den Göring besonders schätzte. Doch 1506 hatte die Stadt bereits viel von ihrer Bedeutung verloren, da ihr Hafen, der für den Handel einst sehr wichtig gewesen war, allmählich versandete und von vielen Schiffen nicht mehr angelaufen werden konnte. Nachdem sie sich nun in einer absteigenden Stadt in Nordwesteuropa befand, deren Einwohner noch nie etwas von einem jungen Künstler namens Michelangelo gehört hatten, geriet die Madonna allmählich in Vergessenheit. Der berühmte Künstlerbiograf Giorgio Vasari, der Mitte des 16. Jahrhunderts lebte, wusste so wenig über die Skulptur – das einzige Werk des Meisters, das sich zu dessen Lebzeiten außerhalb Italiens befand –, dass er glaubte, sie bestehe aus Bronze statt aus weißem Marmor.
Doch wenn man die Madonna betrachtete – das wunderschöne Gesicht der Jungfrau Maria, die fein gemeißelten Gewänder die an Michelangelos anderes Meisterwerk, die Pietà, erinnerten, das Jesuskind, das nicht in den Armen seiner Mutter lag, sondern in den Falten ihrer Gewänder stand, aber dennoch von ihr beschützt wurde –, wusste man sofort, dass man es mit etwas Großartigem zu tun hatte. Im 17. Jahrhundert, als der Ruhm Michelangelos immer mehr zunahm, erkannte man in Flandern, dass die Skulptur ein nationaler Kulturschatz war, und ein Jahrhundert später wurde er für die Franzosen zu einem Objekt der Begierde. Im Jahr 1794, nachdem sie im Zuge der Napoleonischen Kriege Flandern besetzt hatten, holten sie die Brügger Madonna nach Paris. Erst zwei Jahrzehnte
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