Monuments Men
später, nach der Niederlage Napoleons, wurde sie zurückgegeben. Würde die Madonna, wie auch die Welt insgesamt, diesmal ebenso viel Glück haben?
Die Antwort, hoffte Ronald Balfour, war in Vlissingen in den Niederlanden zu finden, einer Hafenstadt in der Nähe der Rheinmündung. Wenn sie über das Meer abtransportiert worden war – und anders war es nicht möglich, da die Alliierten die Straßen und Bahnlinien blockierten und die Skulptur für viele Flugzeuge zu schwer war –, dann hatte die Madonna Vlissingen passieren müssen. Balfour hatte entlang des Rheins Erkundigungen eingeholt, allerdings nur mit geringem Erfolg. Vlissingen, so glaubte er, würde die letzte Chance sein, eine heiße Spur zu finden. Doch er gelangte erst Ende Februar in die Stadt, und zu diesem Zeitpunkt war die Spur schon erkaltet. Die Niederländer wussten nichts. Alle höheren deutschen Verwaltungsbeamten, die über den Transport Bescheid wissen konnten, hatten sich abgesetzt. Die Madonna war unterwegs nach Osten und ihm abermals entschlüpft.
Doch die Enttäuschung, die er in Vlissingen erlebt hatte, wurde in Kleve zumindest zum Teil wieder aufgewogen. Es war noch immer kalt, aber durch den Schnee von Anfang März wurde die historische Stadt, die Heimat von Anne von Kleve, der vierten Gemahlin Heinrichs VIII., noch bezaubernder. Als Wissenschaftler hatte Balfour eine hohe Wertschätzung für historische Dokumente, und es war ihm eine persönliche Ehre, die Archive und die Kunstschätze von Kleve zu retten. Er schaute über die Straße zu den vier Deutschen, die einen Handkarren zogen, der beladen war mit goldenen Kelchen, Seidengewändern und silbernen Kirchenutensilien. Die Welt mochte staunen über diese Pracht, aber Balfour hätte sie gern eingetauscht gegen die sanfte Wärme von altem Papier.
Balfour blickte auf und bemerkte, dass der Bahnhof nur noch einen halben Häuserblock entfernt war. »Warten Sie bitte einen Moment«, rief er Hachmann zu, dem Messdiener der Christus-König-Kirche, der dem Handwagen auf der anderen Straßenseite folgte. »Ich komme gleich rüber.« Aus Gewohnheit schaute er nach beiden Seiten, obwohl es in der verlassenen Stadt keinen Verkehr gab. Und gerade, als er über den Bordstein trat, da zerbarst die Welt um ihn herum.
Auf der anderen Straßenseite geriet der Kirchendiener durch die Erschütterungen des Knalls ins Taumeln. Eine Rauchwolke hüllte ihn ein, und in seinen Ohren schrillte es wie bei einem Sirenenalarm. Als sich der Rauch langsam verzog, kam die Welt wieder zum Vorschein. Die Gebäude standen wie eh und je an ihren Plätzen, aber Hachmann war allein auf der Straße. Die vier Deutschen hatten sich in Sicherheit gebracht. Ungefähr zwölf Meter entfernt lehnte der Monuments Man Ronald Balfour an einem Geländer, über und über mit Blut bedeckt. 174
Am 14. März 1945, vier Tage nach der Explosion in Kleve und einen Tag nach dem zweiten Abtransport aus Carinhall, fuhr der vor Kurzem beförderte Leutnant James Rorimer mit dem Fahrrad zu Rose Vallands Wohnung im fünften Arrondissement, einem alten Stadtviertel von Paris, das auch als Quartier Latin bekannt ist. Das Viertel war vor dem Krieg vor allem bei Touristen beliebt, aber wohl nur wenige Besucher der Stadt, vermutete Rorimer, hatten sich jemals in die gutbürgerliche Wohngegend verirrt, wo Valland lebte, einen abgelegenen Bezirk unweit eines Platzes, an dem bei einem deutschen Bombenangriff im August 1944 ein großes Feuer gewütet hatte. Als er sich mithilfe seiner Taschenlampe im dunklen Treppenhaus seinen Weg suchte – auch sieben Monate nach der Befreiung gab es in einigen Teilen von Paris noch keinen Strom –, wurde Rorimer daran erinnert, wie leicht es für die Nazis gewesen wäre, Rose Valland verschwinden zu lassen.
Er kam an die Front. Endlich. Am 28. Dezember 1944, kurz nach seinem Treffen mit Valland, hatte er mit seinem vorgesetzten Offizier über eine Versetzung gesprochen. Die Nachricht, dass die Franzosen bereits mit dem Vorschlag einer solchen Versetzung an die Amerikaner herangetreten waren, hatte ihn nicht überrascht, insbesondere da er sich daran erinnerte, dass bei einer Zusammenkunft von Jaujards Mitarbeitern im Louvre am 26. August 1944, auf der Jaujard von Rorimers früher Ankunft in Paris berichtete, angeblich Tränen geflossen waren. 175 Er war sicher dass er die lange erhoffte Wendung dem Wirken Jaujards und Vallands hinter den Kulissen zu verdanken hatte. Rose Valland hatte ihm gesagt, er würde an der
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