Monuments Men
Frauen, die ihm zum letzten Akt auf die Bühne gefolgt waren. Seine Augen, einstmals so glühend vor Charisma, dass sie eine ganze Nation in den Wahn hatten treiben können, waren leer.
Nachdem Hermann Göring Hitler die Hand gereicht hatte, erklärte er, er habe dringende Aufgaben zu erledigen, und verließ das Gebäude. Albert Speer hatte das Gefühl »eines historischen Augenblicks: Die Führung des Reiches ging auseinander.« 251 Am nächsten Tag, dem 21. April, kam Göring in Berchtesgaden an, dem Zentrum der sogenannten Alpenfestung. Dort erwartete ihn Walter Andreas Hofer, sein persönlicher Kunstkurator. Görings Kunstsammlung war Anfang April aus seinem Landgut bei Veldenstein abtransportiert worden und kam nach mehreren Verzögerungen aufgrund der zusammenbrechenden Zugverbindungen am 16. April in Berchtesgaden an. Acht Tage später wurden die acht Waggons mit Kunstgegenständen in Richtung Nordwesten nach Unterstein weitergeleitet. Als Göring erschien, standen in Berchtesgaden nur noch zwei oder drei Waggons, die mit Möbeln, seinen Aufzeichnungen und seiner Bibliothek beladen waren. Hofer wohnte in einem dieser Waggons.
Die Situation war aussichtslos, das wusste Göring. Der Führer war eindeutig krank; jeder, der über einen einigermaßen gesunden Menschenverstand verfügte, wusste, dass der Führerbunker bald zu seinem Grab werden würde. Der Krieg war verloren; das Beutegut, das er in all den Jahren angehäuft hatte, war verstreut; die nationalsozialistische Bewegung zerfiel. Der Reichsmarschall, der momentan in den Alpen noch sicher war, glaubte, er sei der einzige Mann, der imstande war, die letzten Reste des Reiches zusammenzuhalten und mit dem Feind erfolgreiche Friedensverhandlungen zu führen. Zudem war er auch Hitlers designierter Nachfolger.
Am 23. April schickte Göring ein Telegramm an Hitler. Da Berlin umzingelt und die Lage hoffnungslos war, bot der Reichsmarschall Hitler an, die Führung des Reiches zu übernehmen. Wenn er bis um 22 Uhr dieses Tages nichts Gegenteiliges höre, würde er davon ausgehen, dass der Führer nicht mehr handlungsfähig sei, und in all seine Ämter eintreten. Hitler antwortete erst am 25. April, aber seine Reaktion war wütend und eindeutig: Er befahl der SS, seinen Stellvertreter zu verhaften. Das Dritte Reich zerfiel.
In Altaussee strich der Restaurator Karl Sieber mit der Hand über die Maserung eines seiner bedeutendsten Werke. Hier ist der Flügel gespalten worden, dachte er und fuhr mit den Fingern über das Holz. Und hier hat die Farbe Blasen geworfen. Vor dem Krieg war Sieber ein gewöhnlicher, aber angesehener Kunstrestaurator in Berlin gewesen, ein Mann, der so ruhig und geduldig war und so sehr für seine Arbeit lebte, dass manche ihn für den letzten ehrlichen Kunsthandwerker Deutschlands, andere dagegen für einen Einfaltspinsel hielten. Er war aus beruflichen Gründen und auf den Rat eines jüdischen Freundes der NSDAP beigetreten und daraufhin begann sein Geschäft zu florieren. Aus den besetzten Gebieten kamen vermehrt Kunstwerke nach Berlin, und auch wenn sie geraubt oder unter zwielichtigen Umständen erworben worden waren, mussten sie gepflegt und gegebenenfalls restauriert werden. Dies umso mehr, als die NS-Führer weniger Kunstliebhaber denn gierige Kunstsammler waren und ihre Besitztümer häufig nachlässig behandelten. Sieber hatte in den vergangenen vier Jahren an mehr erstklassigen Objekten gearbeitet, als die meisten anderen Restauratoren in ihrem ganzen Leben zu Gesicht bekamen. Aber er hätte sich nie träumen lassen, dass er es einmal mit einem solch monumentalen Werk zu tun bekommen würde, einem der Wunder der abendländischen Kultur: dem Genter Altar. Und er hätte auch nie gedacht, dass er einmal unter solchen Umständen arbeiten würde: eineinhalb Kilometer weit in einem Berg in einem abgelegenen österreichischen Salzbergwerk.
Er ging um den Flügel herum, sodass er dem heiligen Johannes ins Gesicht blicken konnte. Welche Menschlichkeit lag in diesen alten Augen! Welche Kunstfertigkeit zeigte sich in der präzisen Darstellung der Details! Jedes Haar war mit einem einzelnen Pinselstrich gemalt. Er konnte fast die Falten des Umhangs spüren, das Pergament der Bibel, die Traurigkeit und die Ehrfurcht in den Augen des Heiligen. Das Einzige, was er nicht mehr sehen konnte, war der Riss im Holzflügel, der beim Transport des Kunstwerks verursacht worden war. An der Reparatur hatte er monatelang gearbeitet, aber seither war die
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