Monuments Men
Beschädigung selbst für das geübteste Auge nicht mehr sichtbar.
Sieber bedauerte es, dass er ihn an diesem unsicheren Ort zurücklassen musste. Aber der Holzflügel war größer als er und viel zu schwer, um ihn wegzutragen. Er brauchte Hilfe, um ihn in die tiefer gelegenen Kammern hinabzuschaffen, wohin er mit einigen Helfern gestern bereits die kostbarsten Stücke gebracht hatte. Daher wandte er sich wieder dem Astronom zu, dem Bild, das Jan Vermeer 1668 gemalt hatte, fast 250 Jahre bevor der Genter Altar entstanden war, in dem jedoch dieselbe feine Pinselführung und Detailgenauigkeit zu erkennen waren.
Aber damit endeten die Gemeinsamkeiten auch. Der Genter Altar war seit seiner Schöpfung ein anerkanntes, geschätztes Meisterwerk gewesen, das Herzstück der niederländischen Renaissance. Vermeer dagegen war ein provinzieller Maler aus Delft, der verarmt und weithin unbekannt starb. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde er wiederentdeckt, 200 Jahre nach seinem Tod. Jetzt zählte er zu den wichtigsten Repräsentanten des Goldenen Zeitalters der holländischen Malerei, wurde als ein großer Meister des Lichts und als unübertroffener Chronist des häuslichen Lebens gerühmt. Sein Mädchen mit dem Perlenohrring galt als die »holländische Mona Lisa« 252 , aber sein Gemälde Der Astronom war ebenso machtvoll und unverkennbar. Es zeigte einen Gelehrten in seiner Studierstube, ein aufgeschlagenes Observationsbuch neben sich, der aufmerksam das Objekt seiner Obsession betrachtete: einen Globus.
Der Astronom berührte diesen Globus nur sachte, beinahe schüchtern. Natürliches Licht, das durch das Fenster hereinfiel, streifte die Weltkugel und die ausgestreckte Hand des Astronomen. Wollte er nur eine Entfernung abmessen oder hatte er gefunden wonach er gesucht hatte? Hier war ein Mann, der vollkommen von seiner Arbeit in den Bann geschlagen wurde, von einem Moment, der universal und eigenartig, bedeutsam und belanglos zugleich war.
Aber es war auch unwahr. Es gab keinen reinen Astronomen, keinen völlig unbeteiligten Kunsthandwerker. Der führende Kunstrestaurator in Altaussee wusste das besser als alle anderen. Auch wenn man einen Mann eineinhalb Kilometer tief in einem Berg einsperrte, Hunderte Kilometer von der Zivilisation entfernt, und ihm eine Arbeit auftrug, die für ein ganzes Leben reichte, und ihm all die Mittel zur Verfügung stellte, die er dazu benötigte, war er dennoch weiterhin den Launen der Welt ausgesetzt.
Mit einem Blick auf den Gelehrten – der nun fast ein wenig erschrocken wirkte über seine Entdeckungen, wie es schien – nahm Karl Sieber Hitlers favorisiertes Bild wieder in die Hand. Dann schaute er kurz über die Schulter und verschwand im dunklen Gang. Er ging nach hinten, tiefer in den Berg hinein, zum Schörckmayer-Werk, jenem Bereich im Bergwerk, der, wie er hoffte, auch die heftigste Bombenexplosion überstehen würde.
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PLÄNE
Mitte Deutschlands, Süddeutschland und Altaussee, Österreich
27./28. April 1945
Am 27. April 1945 stapfte ein junger Hauptmann einer Versorgungseinheit in das Büro des Stabschefs von der Vorhut der 1. US-Armee. Lächelnd legte er einen Metallstab und eine Kugel auf den Schreibtisch. Der diensthabende Offizier betrachtete die beiden Gegenstände eine Weile, dann hob er den Stab hoch und musterte ihn von einem Ende zum anderen. Der kunstvoll gearbeitete, mit Edelsteinen besetzte Stab sah aus wie ein Zepter, das für einen König angefertigt worden war. Und genau das war er. Der Soldat hatte ihm das Krönungszepter und den Reichsapfel des Preußenkönigs Friedrichs des Großen gebracht.
»Wo haben Sie das gefunden, Soldat?«
»In einem Munitionslager, Sir.«
»Wo?«
»In einem Loch im Wald irgendwo da draußen, Sir.«
»Sind dort noch andere Gegenstände?«
»Sir, Sie werden nicht glauben, was dort alles liegt.«
Knapp einen Tag später, am 28. April 1945, erhielt George Stout einen Anruf von Walker Hancock, dem Monuments Man der 1. US-Armee. Stout hatte gerade ein dringendes Ersuchen an das alliierte Hauptquartier geschickt, in dem er Nachschub angefordert hatte: Lastwagen, Jeeps, Verpackungsmaterial und mindestens 250 Männer zur Bewachung der Kunstdepots.
»Ich bin in der Nähe von Bernterode, einer kleinen Stadt im nördlichen Thüringer Wald«, berichtete ihm Hancock. Seine Stimme überschlug sich fast. »George, hier haben wir eine Mine mit 400 000 Tonnen Sprengstoff. 253 Ich kann Ihnen nicht sagen, was sonst noch da unten liegt, nicht am
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