Monuments Men
entschlossen, sie sich zu verschaffen –, aber die Nationalsozialisten hatten auch großen Wert darauf gelegt, neue Gesetze und Verfahren zu entwickeln, um ihre Plünderungsaktionen zu »legalisieren«. Dazu gehörte es unter anderem, die besetzten Länder zu zwingen, ihnen nach der Kapitulation bestimmte Werke zu übergeben. Osteuropäische Länder wie Polen sollten nach Hitlers Vorstellungen zu industriellen und agrarischen Wüsteneien werden, wo slawische Sklavenarbeiter Konsumgüter für die Herrenrasse herstellten. Die meisten ihrer kulturellen Symbole wurden zerstört, ihre großen Bauwerke dem Erdboden gleichgemacht, ihre Statuen niedergerissen und das Material, wo möglich, zu Kugeln und Artilleriegeschossen eingeschmolzen. Aber der Westen war Deutschlands Lohn, ein Ort, an dem die Arier die Früchte ihrer Eroberungen genießen sollten. Es bestand daher keine Notwendigkeit, diese Länder ihrer Kunstschätze zu berauben – zumindest nicht sofort. Das Dritte Reich sollte schließlich tausend Jahre währen. Hitler ließ Werke von ähnlicher Bedeutung wie der des Genter Altars unangetastet, beispielsweise die Mona Lisa oder Die Nachtwache, auch wenn er genau wusste, wo sie versteckt waren. Aber er begehrte das Gotteslamm.
Im Jahr 1940 ließ Hitler (über seinen Propaganda- und Kulturminister Joseph Goebbels) eine Liste von Kunstwerken erstellen, den später sogenannten Kümmel-Bericht, benannt nach seinem Verfasser, Prof. Dr. Otto Kümmel, dem Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin. In der Liste wurden sämtliche Kunstwerke in der westlichen Welt aufgeführt – in Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien und den USA (denen Kümmel neun dieser Werke zuordnete) –, die früher rechtmäßig Deutschland gehört hätten. Nach Hitlers Definition umfasste dies alle Kunstwerke, die seit dem Jahr 1500 aus Deutschland weggebracht worden waren, sämtliche Werke von Künstlern deutscher oder österreichischer Herkunft, alle Werke, die in Deutschland in Auftrag gegeben oder fertiggestellt sowie alle Werke, die in einem deutschen Stil geschaffen worden waren. Der Genter Altar war zweifellos ein Meilenstein und ein bestimmendes Element der belgischen Kunst, aber für die Nationalsozialisten war sein Stil »germanisch« genug, um darauf Anspruch erheben zu können.
Noch wichtiger war, dass sich sechs der Tafeln des Genter Altars (die auf beiden Seiten bemalt sind und insgesamt 14 Szenen zeigen) bis 1919 im Besitz des deutschen Staates befunden hatten. Im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag, durch den der Erste Weltkrieg endete, waren die Deutschen gezwungen worden, diese Tafeln als Reparationsleistung an Belgien abzutreten. Hitler lehnte den Versailler Vertrag seit jeher ab und betrachtete ihn als eine Demütigung des deutschen Volkes und als ein Symbol der Schwäche, die die früheren politischen Führer Deutschlands gekennzeichnet hatte. Als Deutschland im Juni 1940 Frankreich überrannte, war Hitler entschlossen, einen symbolischen Racheakt durchzuführen, und befahl seinen Truppen, jenen Eisenbahnwaggon ausfindig zu machen, in dem 1918 der erniedrigende Waffenstillstand unterzeichnet worden war. Er ließ die Mauern des Gebäudes, in dem er abgestellt war, niederreißen und den Waggon zu genau jener Stelle im Wald von Compiègne schleppen, wo er 24 Jahre zuvor gestanden hatte. Hitler setzte sich auf denselben Stuhl, auf dem damals Marschall Foch, der französische Held des Ersten Weltkriegs, gesessen hatte, und zwang die Franzosen, eine Waffenstillstandsvereinbarung zu unterschreiben. Nach der Zeremonie ließ Hitler den Eisenbahnwaggon nach Berlin schaffen, wo er an der Straße Unter den Linden, in der Nähe des Brandenburger Tores, und später am Lustgarten an den Ufern der Spree ausgestellt wurde. Die Beschlagnahme des Waggons war ein Beweis dafür, dass Deutschland das »Verbrechen von Compiègne« gesühnt und den verhassten Nachbarn in die Knie gezwungen hatte. Aber sie bewies auch noch etwas anderes: dass nichts zu groß oder zu heilig war, um von den Nationalsozialisten geraubt werden zu können.
Der Genter Altar, dieses berühmte Meisterwerk, das die Entwicklung der Malerei nachhaltig beeinflusst hatte, symbolisierte somit eine von zwei langfristigen Bestrebungen Hitlers: das historische »Unrecht« des Versailler Vertrages rückgängig zu machen, und die bedeutendsten Kunstschätze der Welt seinem geplanten Führermuseum in Linz oder einem anderen deutschen Museum zuzuführen.
Im Jahr 1942
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