Moon
schützen.«
Estelle Piprelly lehnte sich zurück, und obgleich sie aussah, als hätte sie gerade einen Ladestock verschluckt, kam sie ihm beinahe entspannt vor. Sie betrachtete ihn noch immer mit diesem beunruhigenden, durchdringenden Blick, und der Füllhalter ragte steif zwischen ihren Fingern empor, das stumpfe Ende nach wie vor auf der Schreibtischplatte, ein winziger, unbeweglicher Pfosten. Er wunderte sich über sie, wunderte sich über ihr plötzliches Stirnrunzeln und grübelte darüber nach, was sie wohl in seinem Gesichtsausdruck las. War da nicht ein Hauch von Nervosität hinter ihren dicken Brillengläsern?
Sie hatte sich rasch wieder gefangen, was ihn noch mehr verunsicherte; gleich darauf zweifelte er schon daran, daß es diese Veränderung in ihrer Haltung überhaupt gegeben hatte.
»Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte Miss Pip-relly knapp. »Ich bin sicher, wir haben beide viel zu tun.«
Und sie dachte: Ich will ihn aus dem Zimmer haben, ich will ihn so schnell wie möglich los sein. Es war nicht seine Schuld, er konnte nichts für diesen unerhörten zusätzlichen Sinn, den er sein eigen nannte, er war nicht dafür verantwortlich zu machen... genausowenig, wie sie für ihre eigene mysteriöse Begabung verantwortlich zu machen war. Auf dieser Basis konnte sie sich des Mannes nicht entledigen, es wäre zu heuchlerisch gewesen, zu grausam. Aber sie wollte von seiner Gegenwart befreit werden, jetzt, noch in diesem Augenblick! Einen Moment lang war sie davon überzeugt, daß er ihre starre Maske durchschaut hatte, daß er die Begabung in ihr gespürt hatte, eine unwillkommene Begabung - denn für die Schule war eine nachteilige Publizität keinesfalls akzeptabel. Ihr Geheimnis, ihr Leiden, durfte niemand teilen, es war zu viele Jahre lang zu gut gehütet worden. Sie würde das Risiko eingehen und ihn im Kollegium behalten - soviel schuldete man ihm -, aber sie würde sich von ihm fernhalten, jeden unnötigen Kontakt vermeiden. Sie würde ihm keine Gelegenheit bieten, ihre Ähnlichkeiten erkennen zu können. Das wäre zu vermessen... etwas zu verraten, jetzt, nach so langer Zeit. Und für jemanden in ihrer Position könnte es sogar gefährlich werden.
»Es tut mir leid, Mr. Childes... wollten Sie noch etwas sagen?« Sie unterdrückte ihre Ungeduld, und eine in Jahren gestählte Selbstdisziplin kam ihr dabei zu Hilfe.
»Nur danke. Ich weiß Ihr Vertrauen zu würdigen.«
»Das hat überhaupt nichts damit zu tun. Wenn ich Sie für nicht vertrauenswürdig hielte, hätte ich Sie niemals eingestellt. Sagen wir einfach so, ich schätze Ihre Fachkenntnis.«
Er erhob sich, brachte ein Lächeln zustande. Estelle Piprelly war ihm ein Rätsel. Er wollte noch etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Wortlos verließ er das Zimmer.
Die Direktorin schloß die Augen und ließ den Kopf gegen die hohe Stuhllehne zurücksinken. Das Sonnenlicht auf ihren Schultern war nicht imstande, die Kälte zu vertreiben.
Im Flur begann Childes zu zittern. Bisher hatte er sich eingeredet, daß er sich unter Kontrolle hatte, daß der Großteil seiner Angst bereits gestern aus ihm herausgespült worden war und seinen Kreislauf buchstäblich verlassen hatte; er war so erschöpft gewesen, er hatte gewußt, daß ihn der Schlaf überwältigen würde, sobald er nach Hause kam. Und so war es dann auch gekommen. Da waren keine Träume gewesen, kein ruheloses Herumwälzen im Bett, keine schweißgetränkten Laken; nur mehrere Stunden lang Vergessen. Heute morgen war er aufgewacht und hatte sich erfrischt gefühlt, und die Bilder vom Samstagabend waren eine eingedämmte Erinnerung, nach wie vor beunruhigend, aber doch einigermaßen in einer Schublade seines Verstandes untergebracht. Unbewußter Reflex, Selbstschutz durch geistige Konditionierung; es mußte einen gültigen medizinischen Begriff dafür geben, eine Bezeichnung für diese Reaktion.
Dann hatte er die Morgenzeitung gelesen, und seine vorübergehende Entspannung war mit einem Schlag fort.
Trotzdem hatte er sich den Alltagspflichten gestellt, mutlos, aber entschlossen, den Tag über die Runden zu bringen. Auf halber Strecke kam dann die Aussprache mit Miss Piprelly. Jetzt zitterte er.
»Jon?«
Er drehte sich erschrocken um, und Amy sah seine Angst. Sie eilte auf ihn zu.
»Jon, was ist los? Du siehst furchtbar aus.«
Childes umarmte sie. »Gehen wir hinaus«, sagte er. »Hast du ein bißchen Zeit?«
»Es ist noch Mittagspause. Bis zum nächsten Unterricht
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