Moonshine - Stadt der Dunkelheit
wahrscheinlich.
»Wer hat das getan?«
»Jemand aus meiner Nachbarschaft. Ich habe nicht mitbekommen, wer genau geschossen hat. Sie haben mich die Straße entlanggehen sehen und abgedrückt … Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Das nannte man wohl Selbstjustiz.
Lily, die entschieden hatte, dass die Lage sicher genug war, um meine Warnungen zu ignorieren, näherte sich uns.
»Also, mit Ihnen wird es echt niemals langweilig.« Sie grinste und küsste dann selbstgefällig ihren Notizblock. »Das ist der reinste Schatz. Zephyr, Sie und ich sind ein tolles Team.«
Ich erwiderte ihr Lächeln. »Ich bin sicher, Ihre Zeitung schätzt Geschichten, die das Leben schreibt.«
»Was denn?
Blutsauger beißt Mensch.
Davon hatte ich schon genug, danke.«
»O nein. Wie wäre es mit:
Mensch schießt mit Silberkugel auf Blutsauger?
Die Bewohner einiger Mietshäuser haben bewaffnete Bürgerwehren organisiert. Silberkugeln und juckende Finger am Abzug, Lily. Das zusammen mit einigen konkreten Informationen darüber, woher
Faust
kommt.«
Die Mundwinkel der Journalistin zuckten. »Wie komme ich nur auf den Gedanken, dass ich bei diesem Handel den Kürzeren ziehen könnte? Was wollen Sie als Gegenleistung, Zephyr?«
»Bringen Sie diese Frau zur Blutbank am St. Marks Place, und fragen Sie dort nach Ysabel. Wenn sie ihr nicht helfen kann, dann kennt sie mit Sicherheit jemanden, der es kann.«
»Warten Sie, warum können Sie das nicht selbst erledigen? Schließlich bin ich in unserem Duo
nicht
der Gutmensch.«
Ich machte einen Schritt zur Seite und zog Lily näher zu mir heran, so dass die Vampirin uns hoffentlich nicht hören konnte. »Eine dieser Bürgerwehren hat ihr vor wenigen Stunden eine Silberkugel zwischen die Schulterblätter gejagt, was einen Vampir in weniger als einem Tag umbringen kann. Ich habe keine Zeit, liebe Lily. Ich habe Nicholas – Sie wissen schon, dem
Turn Boy
– versprochen, mich am Mittag mit ihm zu treffen.«
Lily seufzte. »Gut, abgemacht. Aber Sie haben definitiv ein paar harte Fakten über
Faust
und Rinaldo für mich?«
»Ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob es eine einwandfreie journalistische Gepflogenheit ist, die Quelle mit Informationen zu füttern, um sie dann als unterstützendes Beweismaterial zu zitieren.«
Lily verzog die Mundwinkel zu einem kühlen, arroganten Lächeln. »Was Sie alles
nicht
über journalistische Moral wissen, Zephyr, geht auf keine Kuhhaut. Und überhaupt – solange Sie neue Beweise haben …«
»Die habe ich. Kümmern Sie sich nur um die Frau.«
Lily nickte. »Wir sehen uns dann später. Iris hat mich am Ende doch überzeugt, an einem dieser entsetzlichen Treffen teilzunehmen.«
Sie hastete davon, und die Vampirin musste sich anstrengen, um mit ihr Schritt halten zu können. Ich schüttelte den Kopf. Für eine Reporterin hatte Lily einige bemerkenswerte blinde Flecken in ihrer Beobachtungsgabe.
»Miss, entschuldigen Sie bitte, aber wir müssen die Wache räumen.« Es war der Polizist, den Lily interviewt hatte.
Ich sah mich in dem Raum um und stellte fest, dass ich als einzige Zivilperson noch übrig war.
»Warten Sie, könnten Sie mir vielleicht bei einer Sache behilflich sein?«
Da ich Ihnen allen immerhin vor ein paar Minuten erst den Allerwertesten gerettet habe
. Das sagte ich natürlich nicht laut, doch ich hob die Augenbrauen hoch genug, dass er den Fingerzeig verstand.
»Ah ja, sicher. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich … äh … glaube, ich habe einen kleinen Jungen gesehen, der seit letztem Donnerstag verschwunden sein soll, und frage mich, ob ihn schon jemand als vermisst gemeldet hat.«
»Am Donnerstag?« Langsam schüttelte er den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Letzte Nacht und heute Morgen waren es dagegen ungefähr sieben.« Er zuckte die Schultern.
Ich atmete tief durch und war ein bisschen überrascht, wie enttäuscht ich war. Wenn niemand ein Kind als vermisst gemeldet hatte, dann konnte Judah nur eines von unzähligen gesichtslosen Einwandererkindern sein. Zur Hölle, nach meinem bisherigen Wissensstand konnte er ebenso gut bettelarm und obdachlos sein. Ich begann mich zu fragen, ob ich die Familie des Jungen jemals finden würde.
Als ich nach draußen kam, war die Luft nach dem erhitzten Gewühl in der Polizeiwache erschreckend kalt, aber ich hielt mich warm, indem ich eilig den Rest des Weges bis zum
South-Ferry-
Anleger radelte. Es lagen ein paar Schiffe im Hafen, als ich ankam, und der Kai war voller
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