Moonshine - Stadt der Dunkelheit
und setzte sich auf den anderen Stuhl. »Also, zeig mir ein paar Buchstaben, Charity.«
Ich hob die Hand, um das Deckenlicht einzuschalten. Sofort zog er eine große Show ab, indem er stöhnte und sich die Hand vor die Augen hielt, um das Licht abzuhalten, doch er widersprach nicht. Während ich die zweite Hälfte des Alphabets aufschrieb, fragte ich mich, warum ich mich heute in seiner Nähe so sicher fühlte – ganz im Gegensatz zu gestern. Glaubte ich wirklich, es sei weniger wahrscheinlich, dass er mich packte und umbrachte? Vielleicht war der Grund auch einfach, seinen Feind zu kennen. Wenn ich seine Wutausbrüche absehen konnte, gab es weniger zu befürchten.
Heute hatte er noch mehr Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, als am Tag zuvor, obwohl ich wusste, dass er sich bemühte. Ich hatte Mitleid mit uns beiden und wollte schon aufgeben, aber ich hatte nach wie vor einen Plan, den ich verfolgen musste. Ich hatte beschlossen, die Buchstaben durch Straßennamen zu erklären, die ihm bekannt waren. Praktischerweise wollte ich möglichst viele der Straßen einstreuen, die sich in der Nähe der Stelle befanden, an der Judah angegriffen worden war. Es war weit hergeholt, aber vielleicht würde Nicholas, wenn ich ihn nur mit der Nase darauf stieß, genug sagen, damit ich mir zusammenreimen konnte, wo genau er Judah gefunden hatte.
»Also, L steht für Lafayette oder Leonard«, begann ich und schrieb die Wörter in großen geschwungenen Buchstaben auf. Nicholas wiederholte sie lautlos, während er meine Linien mit dem Finger nachzog. »Gefolgt von M. Das M steht für …«
Ich blickte ihn ein paar Sekunden lang erwartungsvoll an. Nicholas sah zu mir auf. »Morris?«
Ich erlaubte mir ein kleines Lächeln. »Ja, perfekt.« Morris war eine winzige Straße, die noch weiter Richtung Innenstadt lag als die beiden anderen. Selbstverständlich bewies es noch gar nichts, dass er den Namen angebracht hatte, doch warum sollte er eine Straße wählen, die so weit außerhalb seines eigentlichen Reviers lag? Vielleicht weil dort vor kurzem etwas Außergewöhnliches geschehen war? Ich fühlte mich bestätigt, als er »Pearl« für P und »Rector« für R aufzählte. Als wir schließlich das S erreichten, stockte Nicholas.
»Das ist albern«, knurrte er und schob das Papier so heftig von sich, dass das Blatt einriss. »Ich kenne die verdammten Straßen schon. Bring mir etwas anderes bei.«
»Tja«, entgegnete ich und bemühte mich, ruhig zu klingen – was gar nicht so einfach war, wenn man bedachte, dass mir das Herz bis zum Hals schlug. »Ich denke, es wird leichter für dich, wenn wir als Beispiele Wörter benutzen, die du schon kennst. Das hier ist … na ja, vor allem seit
Faust
da ist, ist es dein Stadtteil, nicht wahr?«
Er spuckte auf den Fußboden, und ich versuchte, das Zischen nicht zu beachten, als sein Speichel auf den Beton traf. »
Mein
Stadtteil. Ha. Lass das bloß nicht meinen Papa hören. Das hier ist seine verfluchte Auster, ich dagegen bekomme nur den Abfall.«
Ich widerstand dem Drang, ihn auf seine vermischten Metaphern hinzuweisen. Seine Worte enthielten einen wichtigen Hinweis. Seinem Papa gehörte dieser Teil der Stadt? Das bedeutete entweder, dass sein Papa der Bezirksbürgermeister war, oder …
»Rinaldo? Er ist dein Vater?«
Nicholas beugte sich über den Tisch und packte mit der linken Hand meinen Kopf. Er zog mich ganz nah an sein Gesicht heran, als wollte er mich küssen, doch mit Romantik hatte seine wütende, halb wahnsinnige Miene nichts zu tun.
»Nur damit wir uns richtig verstehen, Charity Gutmensch. Rinaldo ist nicht nur mein Vater. Und was er mir angetan hat? Sagen wir einfach, dass ich nichts mehr über die verfluchte Water Street hören will, klar?«
Die Fangzähne des zweitgefährlichsten Vampirs von Lower Manhattan waren weniger als zwei Zentimeter von meinem Hals entfernt, und ich hätte vor Freude tanzen können.
Water Street.
Ich hätte meine Miete darauf verwettet, dass er Judah dort gewandelt hatte.
Allerdings gab es Folgen, die ich bisher nicht bedacht hatte. Wenn Nicholas Rinaldos Sohn war, dann kannte er höchstwahrscheinlich das geheime Versteck seines Vaters. Andererseits würde es dadurch umso schwieriger werden, es aus ihm herauszubekommen. Obwohl er seinen Vater zu hassen schien, wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass diese Flut an Emotionen, die ich so nah an der Oberfläche bemerkt hatte, mit einem Mal hervorbrach. Verdammt, und ich dachte,
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