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Moonsurfer

Moonsurfer

Titel: Moonsurfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Birck
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aufsteigen lässt.
    »Mister?«, flüstert er. Keine Antwort.
    Vielleicht hält er ja seinen Nachmittagsschlaf, überlegt Steven. Bestimmt ist er halb taub. Der Kerl muss ja über hundert Jahre alt sein   …
    Fliegenschwärme surren im Raum. Sie fallen über Steven her, versuchen in Augen, Mund und Nase einzudringen und belagern in Gesellschaft von unzähligen Kakerlaken den zerschlissenen Lehnstuhl.
    Steven bewegt sich vorsichtig zur Seite und umrundet den langen schweren Esstisch. Auf einmal blendet ihndas Gegenlicht, das durch die Türöffnung in die Dunkelheit fällt. Er kann jetzt nur noch den Umriss des summenden Insektenthrones ausmachen, auf dem der Alte sitzt. Er tastet sich vorsichtig am Tisch entlang, vorbei an einer Stuhlreihe, deren frühere Samtbezüge völlig von Motten zerfressen sind. Durch die Lichtstraße, die der Türspalt über die Tischplatte legt, huschen Kakerlaken, die ihre langen Fühler vibrieren lassen, als ob sie den Eindringling zu orten versuchen. Und dort, neben dem Kerzenständer, entdeckt Steven auch sein Feuerzeug …
    »Mister?«, flüstert er noch einmal und ergänzt, obwohl er hier selbst derjenige ist, dessen Knie zittern: »Ich … ich möchte Sie nicht erschrecken!«
    Keine Antwort.
    Steven wagt sich noch ein Stück näher an den Alten heran, bis er dicht vor dem schwarzen Umriss des Sessels steht. Das Ding ist vollständig von dem dunklen Insektenschwarm überzogen wie von einer sirrenden und wabernden Haut. Mit einer schnellen Handbewegung will Steven das Ungeziefer vertreiben. Der Schwarm stiebt auseinander - und das, was Steven jetzt keine Armlänge entfernt vor sich hat, katapultiert ihn zurück, als wäre er von einem Faustschlag getroffen worden. Sein Herzschlag, sein Atem und sein Verstand scheinen gleichzeitig stillzustehen. Mit weit aufgerissenen Augen stolpert er rückwärts, verfängt sich in den Fransen des Perserteppichs, landet in einem der Stühle, die den Tisch umstellt haben, und kippt mit einem lauten Knall um, den Raum mit einer Wolke aus Staub füllend.
    Stöhnend und hustend versucht er, sich wieder aufzurappeln. Der trockene Nebel im Raum legt sich … bis ausdem Fliegenthron über ihm die leeren Augenhöhlen eines Totenschädels in die Dunkelheit starren, eingewachsen in den mottenzerfressenen Samt der Rückenlehne. Ledrige Hautreste, Fetzen, Risse, Fasern. Harte, leere Adern, fein wie dünne Drähte.
    Eine Mumie.

    Ihr weit aufgerissener Unterkiefer hängt an ausgetrockneten Sehnen. Ein tonloser Schrei aus einem Gebiss ohne Zähne.
    Das Skelett steckt im zerschlissenen Gehrock des alten Grumble, der Säbel vor ihm in den Dielen des Bodens. Sein Strohhut wächst aus den Hautfetzen über dem nackten Knochen der kalkweißen Stirn, durch die sich die schreckliche Bruchstelle zieht, die einst ein Entermesser geschlagen haben könnte.
    Steven rappelt sich auf, aber seine Beine wollen ihm den Dienst versagen. Er wankt, stolpert und schlittert um den riesigen Tisch herum, zurück zum Lichtspalt der Tür. Er hat den rettenden Ausgang beinahe erreicht, als sein Blick den langen Schatten neben der Tür streift.
    Das Board!
    Steven stoppt seine Flucht. Er atmet schwer, schließt die Augen, reißt sie wieder auf. Vor ihm das Licht und der warme Wind des freundlichen Nachmittages, neben ihm das Board und hinter ihm das stinkende Skelett des Greises,das gestern noch mit ihm geplaudert hatte. Er will sich das Brett schnappen und abhauen.
    Aber er ist kein Dieb.
    So steht er da, zwischen Licht und Dunkelheit, und denkt nach.
    Der Alte hatte mir vor ein paar Tagen, also als er noch lebte, Scheiße, also er hatte mir auf jeden Fall erzählt, und ich hab mich doch nicht verhört   …
    Steven versucht, seine Gedanken zu ordnen.
    Komm schon, beruhige dich , besänftigt er sich. Locker bleiben! Ganz locker. Ist alles halb so schlimm. Nur’n paar sprechende Knochen in Gesellschaft von’n paar Millionen Fliegen.
    Er atmet tief durch.
    Also: Der Knochenmann war noch vor einigen Tagen halbwegs lebendig und hat mir erzählt, dass das Board mich zu ’nem Big-Wave-Surfer machen würde   … und dann hat er noch was von einer Siebten Welle gefaselt   … und jetzt sitzt er einfach nur da, als sei nichts gewesen   …
    Steven will erneut nach dem Board greifen und das Weite suchen. Doch während sein Verstand » Take it and run!« ruft, findet seine Neugier, dass ihm das Gerippe noch ein paar Erklärungen schuldet.
    Er pumpt einen Vorrat frischer Luft in seine Lungen,

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