Moor
verbietet, stehst du trotzdem jeden Tag in der Tür, bringst Obst, Magazine mit bunten Bildern, die sie ablenken, vielleicht Blumen. Zwingst sie, zu akzeptieren, dass es ohne dich eben nicht geht. Das war der Plan.
Während du den Rucksack schnürtest, sind diese Gedanken hin und her. Sicherlich war es im Winter nicht ihre Entscheidung gewesen; die Ärzte müssen ihr eingetrichtert haben, dass sie Abstand zu dir halten soll. Als würdest du sie strapazieren. Damit so etwas nicht wieder vorkommt, hast du beschlossen, mit ihnen zu reden. Die Sätze sind in deinem Kopf, teils in einer neuen Kladde schon formuliert. Mit Fakten aus den letzten Wochen willst du ihnen beweisen, dass sie ohne dich nicht klarkommt.
Die Sache mit Holland wird es ihnen verständlich machen. Holland würdest du in allen Details erzählen. Dort nämlich habe sie dir gezeigt, wie sehr sie dich braucht. In der holländischen Klinik warst du der einzige Mann unter lauter verzweifelten Frauen. Auf dem Flur hast du eine weinen sehen, die noch viel jünger als Marga war, fast noch ein Kind, wirst du sagen. Niemand hätte sie dort trösten können. Wer, wenn nicht du? Du bist stolz durch die Korridore gelaufen, in denen es frisch und gesund roch. Während du gewartet hast, dass sie aus dem Behandlungszimmer kommt, sei dir bewusst geworden, dass sie das alles nur für dich tut. Für die Familie, fügst du hinzu. Später, an der Liege, wo sie noch ein wenig ruhen sollte, hast du lange ihre Hand gehalten.
Der Arzt schaut von seinen Aufzeichnungen hoch, klickt mit dem Kuli. Aber warum, will er wissen, hat sie ausgerechnet dich mitgenommen? Ob es keine Freundinnen gebe, eine Schwester? Und was mit dem Vater des Kindes sei? Du weichst seinem Blick aus, schaust zum Fenster. Das Licht fällt in schrägen Streifen durch den weißen Vorhang, eine Jalousie mit senkrecht verstellbaren Lamellen, wie sie typisch ist für Arztzimmer, wo das Gesunde vom Kranken klar getrennt wird. Das Muster auf dem Linoleumboden ist regelmäßig, in seiner Geometrie wirkt es beruhigend und richtig. Du glaubst, dem Mann, der helle, freundliche Augen hat,vertrauen zu können. Er wird nur das Beste für dich und deine Mutter wollen.
Lange wägst du die Worte ab. In deiner Kladde klingt der Satz anders, hoffnungsloser und wütend, nun aber sagst du: Leon, den wir dortlassen mussten. Der Arzt runzelt die Stirn. Das Brüderchen, verbesserst du, das in dem Zimmer geblieben ist.
Was mit dem Kind sei?, will der Psychiater wissen, steht auf und verstellt an einer Kordel die Jalousie. Es wird angenehm dämmrig. Erst jetzt merkst du, wie grell und laut es die ganze Zeit um dich herum gewesen ist. Du holst Luft und sagst: Sie behauptet, es war unser Kind. In der plötzlichen Stille, mit den gedämpften Geräuschen der Stadt, so weit weg von mir, fällt dir auf, dass du die ganze Zeit nicht gestottert hast.
So sollte es ablaufen. Nachdem du ihnen alles erzählt hättest, würden sie eine Ambulanz in die Galerie schicken, um Marga abzuholen. Alles käme wieder ins Lot, wenn die Ärzte sie dazu brächten, ihre Medikamente zu nehmen.
Der Therapieplan hing bis vor kurzem noch an der Pinnwand. Sie sollte in einer Tabelle auf einer Skala von eins bis zehn ihr tägliches Befinden bewerten, doch seit Daniel weg war, hatte sie kein Kreuzchen mehr gemacht. Anfangs pendelte ihre Stimmung zwischen fünf und sieben, Tendenz steigend. Dann lange nichts mehr, es muss die Zeit gewesen sein, als sie glaubte, all das nicht mehr zu brauchen. Plötzlich zwei Kreuze bei zehn, an den Tagen, als sie wieder zu malen begann. Wieder Lücken, dann ein Kreuz bei eins, groß, bedrohlich, es ragte bis drei hinauf und weit unter die Null. Am nächsten Tag hatte die Tabelle im Müll gelegen, zusammen mit den Tabletten und dem Erinnerungskärtchen für die Blutkontrolle, die sie verweigerte. Aus ihren Streitereienmit Daniel wusstest du, dass der Wirkstoff-Spiegel in ihrem Blut auf keinen Fall absinken durfte. Schon eine minimale Schwankung könnte sie auf der Skala steil nach oben oder unten katapultieren. Du hast alles aus dem Eimer gefischt und den Merkzettel in die Kladde geklebt; für alle Fälle wolltest du die Adresse der Klinik zur Hand haben.
Als der Termin anstand, hast du sie geweckt, zur gleichen Zeit wie sie früher dich; die Libellenuhr an der Wand zeigte noch immer halb acht. In deinem Zimmer war es seit September Winter, und ebenso kalt blieb dein Bett. Zur Sicherheit schliefst du seit Daniels Auszug bei
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