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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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stattdessen ein Glas und setzte sich wieder an den Tisch, aufrecht wie zu einer Mahlzeit. Dein Wort, sagte sie und schluckte. Hinter ihr strömte das Wasser aus dem Hahn ins Becken, zum Rohr, immer nach unten. Du tatst dankbar einen Schritt auf sie zu, wolltest sie sogar in den Arm nehmen, doch da hatte sie schon den gesamten Inhalt der Dose im Mund, nach einer Bewegung, die du heute kaum mehr erinnern kannst, wie sich in den letzten Wochen die meisten ihrer Gesten, die von einer Sekunde auf die andere alles veränderten, im Zeitraffer abgespielt hatten, mit einer Geschwindigkeit, der nur das Auge einer Libelle noch hätte folgen können.
    Doch auch dein Körper, der sich immer ein wenig träge gegen die Zeit gestemmt hatte, war durch ihre unberechenbaren Aktionen mittlerweile geschult. Schon im nächsten Moment steckten deine Finger in ihrem Hals. Du packtest sie an den Haaren und wehrtest mit der anderen Hand ihre Bisseab, bis du die letzte Tablette aus der Mundhöhle gekratzt hattest. Sie sprang auf und übergab sich ins Spülbecken. Deine Finger glänzten vom Speichel. Wo sie dich erwischt hatte, zeichnete sich die Reihe ihrer Zähne ab. Das Wasser rauschte, sehr lang und laut. Ich werde fett davon, rief sie und riss die Bluse auf, das – und sie stieß deine Hand in ihr Fleisch –, diese Titten waren einmal das Beste an mir, und das – ihre Stimme klang nun wieder wie die Punze, die sich dir in die Knochen bohrte, während sie Jeans und Slip herunterzerrte –, dafür, hämmerte sie, haben die Männer einst Schlange gestanden, und sie versetzte dir einen Schlag gegen die Brust, aber wenn ich weiterhin dieses Zeug fresse, und sie fegte ein paar der ausgespuckten Pillen vom Tisch, wenn du mich weiterhin zwingst, diese Scheiße zu schlucken, und sie zog deine Hand hinterm Rücken hervor und schloss die Schenkel darum, dann wirst du, heulte sie, der einzige Kerl sein, der mich noch will!
    Das alles wieder wie im Zeitraffer; nur in der Erinnerung kannst du das Ineinander der Bewegungen, Rufe und Blicke bewusst verlangsamen. Plötzlich sahst du die Tränen. Schnell bist du aus ihrer Umklammerung heraus und zurück, mit nach hinten gestreckten Armen. Die Küche schien dir eine Art Käfig, deine Mutter darin das tollwütige, sich am Boden windende Tier. Willst du das?, rief sie; in ihrem Mundwinkel, wo der Schwung des Lippenstifts ausriss, klebte das Pulver einer zerbissenen Tablette. Ob dich das anmache?, sie presste sich die Hand in den Schoß. Zwischen deinen Fingern endlich die Kante des Küchenschranks, der Besen in der Ecke, dahinter der Türrahmen, die Freiheit. Deshalb hast du Daniel verjagt, stampfte sie mit Fußtritten in den Küchenboden, und noch lange nachdem du die Türdeines Zimmers zugeschlagen und dich aufs Bett geworfen hattest, hörtest du von unten herauf die heißgelaufene Muttermaschine walzen und stanzen.
    Wie jeden Nachmittag wenn du dich an die Hausaufgaben machtest, stand die Sonne senkrecht über dem Teich, in einem gleißenden, unermesslich offenen Himmel, nackt und unverschleiert. Nur manchmal in leichten Dunst gehüllt wie unter heller Seide, leuchtete sie seit dem Märztag, als Marga aus dem Krankenhaus zurückgekommen war, mit zunehmender Kraft deine Tage aus, und je wärmer ihre Strahlen wurden, die aus den Heizkellern die Katzen in die Gärten lockten, die Hunde in die Hütten zurückdrängten, das Schmelzwasser aus den Gräben leckten und auf dem Schreibtisch, wo du, statt das Schulzeug zu erledigen, verbissen in deine Kladde gekritzelt hast, den Staub sichtbar machten, desto deutlicher erkanntest du in der Sonne eine neue Eigenschaft: ihre Bosheit.
    Es war der elfte Mai, Muttertag, hast du hinzugefügt, als du das Notizbuch aus der Ritze zogst und das Datum eintrugst, unter dem du die Geschehnisse festhalten wolltest, wie du in den letzten Wochen fast täglich ihre Stimmungsschwankungen protokolliert hattest, als wäre sie deine Patientin und die Kladde eine Krankenakte. Wenn man deinem Tagebuch nicht glauben würde, dachtest du und begannst mit noch immer zitternder Hand den Eintrag, wärt ihr beide verloren.
    Ob dir bewusst sei, was für ein Tag heute ist? Sie stand plötzlich hinter dir; vertieft in deine Aufzeichnungen, hattest du sie nicht hereinkommen hören. Du reagiertest nicht, warum auch? Sie hasste den Tag der Mütter; als wären die schon zu Lebzeiten heilig, das war immer ihr Spruch gewesen. Alsohatte sie den Tag wie jeden anderen Sonntag verbracht: malend in der

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