Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
Vom Netzwerk:
wegschlafen konntest. Mit dem Fingernagel hast dueinen Hautfetzen von der Lippe gekratzt, süchtig nach dem Schmerz. Aus dem Schlafzimmer drang ein Wimmern, das Licht im Türspalt war grün. Als du hingingst, verstummte sie. Bestimmt hattest du dich verhört. Es war nur eines dieser Geräusche gewesen, die dich im Haus manchmal aufschrecken lassen und noch eine Weile im Ohr nachklingen, das im Kopf gefangene Echo eines Tons, der schon längst wieder verhallt ist: ein Windpfeifen, das Rauschen von Wasser, das Weinen der Mutter.
    In der Schule sah niemand die Verletzung. Beim Klogang war da im Spiegel nur eine leichte Schwellung, wie bei Benno, deinem Banknachbarn, der an Herpes litt. Und wenn dich doch jemand gefragt hätte, wie wolltest du es erklären? Einmal wäre die Gelegenheit sogar günstig gewesen; nach dem Pausenklingeln, als alle zur Tür strömten, hatte Gebhard, der Biologielehrer, dich ans Pult gerufen. Er spielte mit der Kreide, während er sich nach deinem Befinden erkundigte; du würdest, wog er vorsichtig die Worte ab, in letzter Zeit recht zerstreut wirken, und deine Leistungen … Er blätterte seufzend im Notenbuch. Dabei habe dich Naturkunde früher so interessiert, die Libellenstudien, sagte er, einmalig. Sicher, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, die Sache mit deiner Mutter … Sie habe damit nichts zu tun, wolltest du ihn unterbrechen, doch zu spät kam das erste Wort über die Lippen, er hatte den Satz bereits vollendet: … sei bestimmt eine große Belastung für dich gewesen. Ihr geht es wieder gut, hast du hervorgepresst. Deine Interessen lägen eben jetzt woanders, und die Eins in Deutsch würde die Fünf doch ausgleichen. Dagegen schien Gebhard kein Argument zu haben, er zuckte nur ratlos die Schultern und warf den Kreidestummel in den Papierkorb. In der gleichenBewegung flohst du aus dem Biologiesaal. Wenn du Hilfe brauchst, hörtest du den Lehrer hinter dir, kannst du jederzeit zu mir kommen, und nichts hättest du in diesem Moment lieber getan, als dich umzudrehen, die Tür zu schließen und langsam zu reden zu beginnen, nach den richtigen Worten und einem Zeitpunkt ringend, an dem du mit deiner Erzählung hättest ansetzen können. Doch selbst in deinem Tagebuch gab es nur ein paar hilflose Formulierungen für etwas, das viel qualvoller und unbegreiflicher war als eine aufgebissene Lippe, und nichts als leere Seiten dafür, was ein paar Tage später in der Küche passierte.
    hDie oder hich, hast du gedroht und ihr die Pillendose hingehalten, nach dem Mittagessen, von dem sie wie immer nichts aß. Sie blickte dich spöttisch an, warf den Kopf in den Nacken und fuhr sich durchs Haar. Im Sonnenlicht erschien dir das Rot wieder zu schrill, genau wie das Lachen, das ihr Gesicht verzerrte, erst den Blick, dann ihren ganzen Körper in die Höhe schraubte, bis sie sich verkantet über dich beugte, dir die Dose aus der Hand riss und mit einer Stimme, die nie deiner Mutter gehört haben konnte, maschinenhaft auf dich herabstanzte: Dann-die-Ta-blet-ten.
    Mit den spitzgefeilten Nägeln, die sie schwarz lackiert hatte, pickte sie eine heraus, betrachtete sie im Gegenlicht, als handelte es sich um etwas sehr Kostbares, legte sie dann auf die Handfläche und krümmte die Finger. Schau hier, sagte sie und deutete auf die eingekerbte Pille, hier endet meine Lebenslinie.
    Wieder eines dieser Spiele, dachtest du, die dich abstrafen sollen, dir die Schuld an ihrem Zustand zuschieben. Sie drehte den Wasserhahn auf. Der Strahl schoss ins Becken. Von allen Geräuschen, die im Haus die Stille anfüllten oderdie Taubheit erst hörbar machten, in die deine Tage eingepackt waren wie in einen dicken Klumpen Torf, war dir das Rauschen von Wasser stets das liebste gewesen. Meist kündigte es eine Besserung an: Wenn es in die Wanne strömte, war sie endlich aus Hamburg zurück. Das Gurgeln im Kloloch hatte dich bis zum nächsten Geschäft vor dem gefährlichen Rochen bewahrt, früher, als du noch Kind warst; das Pladdern in den Traufen eröffnete morgens die Regenpantomime, für die sie sich stets neue Pointen ausdachte, um dich zum Lachen zu bringen. Nun aber hatte sich auch der sanfteste aller Laute in Lärm verwandelt.
    Das Gefühl der Niederlage war ein grünes, galliges, das Frühlingsgefühl, seit ihrer Rückkehr hattest du kaum mehr ein anderes empfunden. hMama, hnicht!, hast du gerufen, und tatsächlich: Sie hielt inne, schwemmte die Pille nicht, wie befürchtet, in den Abfluss, sondern füllte

Weitere Kostenlose Bücher