Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
Vom Netzwerk:
ihr, in der Betthälfte, wo sich früher ihre Klamotten gehäuft hatten. Wenn du die Augen aufschlugst, fiel helle Frühlingssonne durch den Vorhangschlitz. Du hast dich herübergebeugt und ihr vorsichtig den Mund auf die Stirn gedrückt; wach gerüttelt zu werden hatte ihr schon immer schlechte Laune bereitet. Meist wischte sie dich brummend weg und stellte sich schlafend, du zogst sie an den Füßen aus dem Bett.
    Doch an diesem Morgen ruhte ihr Blick lang auf dir, musterte dich misstrauisch und fragend, wie den Fremden, neben dem man nach einer Rauschnacht erwacht. Was dir einfiele, sie so früh zu wecken, blaffte sie los, sie habe die ganze Nacht gerackert, irgendwer müsse ja wieder Geld heranschaffen, jetzt, da du – das Wort traf dich wie ein Geschoss – Daniel aus dem Haus geekelt hättest, und so weiter, wie so oft in letzter Zeit feuerte sie sinnlos ins Leere. Du hast auf irgendeinen Punkt am Boden gestarrt, wo sich ein Sonnenstrahl in die Holzdiele brannte; im Staub sahst du Kanten und bizarre Strukturen, wie unter einem Mikroskop. Dass sie zur Blutabnahme müsse, hörtest du deine Stimme, die von dir abgesplittert in das grüne Dämmerlicht hinter den zugezogenenVorhängen schnitt, mitten hinein in das Durcheinander von Schatten, Decken, Haaren, Blicken, nackter Haut zwischen schlampig geweißten Tapetenbahnen, verkrusteten Farbeimern und den alten, längst vertrockneten Hoffnungen dieses Frühlings.
    Sie verstummte, schaute dich entgeistert an, als würde sie dich erst jetzt erkennen, streckte schließlich die Hand aus und sagte: Mein Liebling. Widerwillig bist du zu ihr hinübergerutscht. hIch hkomm mit, sagtest du, drei armselig pfeifende Worte, die dich zusammenzucken ließen; nicht nur wegen des Stimmbruchs hattest du die Tonlage deiner Worte kaum mehr unter Kontrolle. In der Schule warst du für den Vormittag entschuldigt, ein Arzttermin, du hattest nicht gelogen, doch Gorbach, argwöhnisch wegen deiner Schwänzerei im Herbst, verlangte eine Bescheinigung. Wer sollte sie dir ausstellen, und wofür?
    Sie streichelte mit dem Daumen dein Handgelenk, an der Stelle, wo man einem Kranken den Puls misst. Lieb, dass du dich um mich kümmerst, sagte sie, drückte deine Schulter, kam nah. Ihr hättet bisher doch immer alles zusammen geschafft; ihr Mund suchte dein Ohr. Der Sonnenstrahl war ein Stück weiter gekrochen, sondierte jetzt ein Astloch. Und jetzt gib mir einen Kuss. Sie drehte dir das Gesicht hin. Alles wolltest du tun, damit sie aufsteht, sich anzieht, mit dir in den Bus nach Hamburg steigt. An ihrem Blutbild würden sie sehen, dass sie die Tabletten nicht nimmt, ihre Rückschlüsse daraus ziehen, ahnen, dass es auch dir damit nicht gutgehen kann.
    Der Ekel vor ihrem Speichel, überhaupt vor den feuchten Stellen ihres Körpers. Ihre Küsse rochen wieder wie im Herbst,der Geruch ihres Zusammenbruchs saß dir noch immer in der Nase. Doch du wusstest um ihre Wirkung und hast sie ertragen. Jede Gegenwehr hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Ihre Zunge suchte sich einen Weg zwischen deinen Zähnen hindurch. Kaum hattest du nachgegeben und den Mund einen Spalt weit geöffnet, spürtest du den kurzen, scharfen Biss. Du sprangst auf, sie blickte dich gleichgültig an, dann war da etwas wie Häme in ihren Zügen, oder lag es am Zwielicht, das aus den Vorhängen sickerte, giftig eingetrübt von dem hellgrünen Leinenstoff, den sie mit Daniel in Zeeve besorgt und zu einer raffiniert gesäumten Gardine umgenäht hatte?
    Du hast dir den Tropfen vom Mund gewischt. Gib ihnen was von dir, sagte sie, wir haben die gleiche Blutgruppe. Mit diesen Worten warf sie sich im Bett herum, grub die Hände unters Kissen und rührte sich nicht mehr. Vorm Badezimmerspiegel hast du die Wunde betupft, die schon nicht mehr blutete, wo vielleicht nie Blut gewesen war, nur ein Missverständnis der Lippen; ihr war nach Schmusen, du wolltest sprechen, ein verunglückter Kuss, wie er einem jungen Liebespaar passiert, das vom Moment zu viel fordert. Bis soeben war das Ineinander eurer Zungen ein Weg gewesen, die Bedürfnisse des anderen auch ohne Worte zu erfragen. Jetzt hatte sie auch diese letzte Verbindung buchstäblich durchgebissen.
    Der dich aus dem Spiegel anblickte, war dir fremd. Du sahst den dunklen Flaum auf dem Kinn, den du bald würdest rasieren können; einen neuen Pickel zwischen den Brauen, der zum Ausdrücken reif war, was sie aber schon lang nicht mehr interessierte; die Ringe unter den Augen, die du nicht mehr

Weitere Kostenlose Bücher