Moor
Wahl. Kannst die Schuld an seinem und deinem Schicksal selbst verteilen. Auch Mariannes Weste, in der du bisher nur Gutes stecken sahst, ist nicht ganz sauber. Gestern ermahnte sie dich noch, für deinen Vater zu beten, damals aber hat auch sie ihm, wie man sagt, die Hölle heißgemacht. Dabei sollte es der Himmel auf Erden werden, ein kleines Eden zwischen Schweinestall und Moor. Sie schrieb Liebesbriefe, schickte Geschenke, ergatterte beim Dorffest fast jeden Tanz. Hielt hartnäckig den Platz neben sich in der Kirchenbank frei, wo sich bald Karl Lambert hinsetzte. Während der Lieder, die er noch nie mitgesungen hatte, raunte er ihr sein Leid mit dem nichtsnutzigen Bruder ins Ohr. Wie der Haus und Grund verkommen ließ und für seine Torfgeschäfte alle paar Wochen nach Hamburg verschwand, wo er, so flüsterte er der Tochter des reichen Milchbauern, statt zu arbeiten, hurte und soff.
Marianne bewegte im Singsang die Lippen und quietschte ab und zu einen Ton, den Karl für einen Ausdruck von Mitgefühl hielt. Den Antrag schlug sie nicht aus, sollte eine Hochzeit sie doch in die Nähe des Schwagers bringen. Der jüngere der beiden Lamberts war ein verschlossener Typ, still, aber nicht ruhig, was im Dorf für Argwohn sorgte. Er schien etwas im Schilde zu führen, schmiedete seine Pläne an den anderen vorbei. Tatsächlich dachte dein Vater in größeren Dimensionen: Sein Ziel war es, auf lange Sicht das Moor trockenzulegen, aber nicht für den Ausbau der Schweinemast.Er schickte Angebote an Investoren, Fabrikanten, Energiekonzerne – würde er noch leben, du hättest am Horizont nicht mehr die Birkensilhouetten, sondern die Kühltürme eines Kraftwerks gesehen.
Mit dem Erlös für sein Land wollte er weg, mit dir und deiner Mutter in den Süden, da kam ihm der Hamburger Exporteur Rasmussen mit seinen Kontakten nach Spanien gerade recht. Spanien, das Wort klingelte ihm im Ohr; vielleicht, dachte er, könnte er einmal mitfahren, sein landwirtschaftliches Wissen an die Tomatenzüchter weitergeben, die dort mit der Wassernot kämpften; als Moorbauer hatte er von Dränagen und Kanalsystemen eine gewisse Ahnung. Er zeigte deiner Mutter in einem Prospekt ein weißes Haus am Meer, dort endlich weniger arbeiten, vielleicht ein zweites Kind und für dich eine sonnige Zukunft; dein Vater, Dion, war ein Träumer, das immerhin hast du von ihm. Er hätte die Großgrundbesitzerin aus dem Nachbardorf haben können und hat das Hamburger Straßenmädchen genommen.
Marianne verbiss sich ihre Eifersucht, besuchte weiterhin den Gottesdienst und hielt trotz allem an ihm fest. Jeden Abend sah sie das Licht in den Fenstern des Hauses, darin den Schattenriss einer sehr schlanken Frau. Wieder so ein Küken, dachte sie, und dass auch die bald fort sein würde wie alle anderen. Irgendwann hätte sich der Schwager die Hörner abgestoßen, würde endlich auch die Torfgeschäfte aufgeben, die nichts einbrachten, seinen Hof wieder mit dem ihres Mannes zusammenlegen und ganz auf die Schweinemast setzen. Das Haus am Heidedamm würde den neuen Ställen weichen und er selbst wieder in sein Elternhaus ziehen, auf ihren Hof, wo viel Platz war. Der Weg zwischen seinem und ihrem Wohntrakt wäre nicht weit, der Anbau wargerade fertig geworden; es hätte Gelegenheiten genug gegeben, Karl hatte beim Korn einen kräftigen Zug. Nur ein Unfall dürfte ihnen dabei nicht passieren. Das Schächtelchen mit dem Ehehygienemittel, das sie extra in einer Apotheke besorgt hatte, wo niemand sie kannte, versteckte sie im Schlafzimmer unter einer lockeren Diele. Im Laufe der Jahre zernagten Mäuse die kleinen rechteckigen Briefchen, mit den weichen Gummihäuten darin polsterten sie die Nester für ihre Brut.
So weit die Legende. Was daran stimmt, denk dir dazu oder find’s raus. Traust du mir etwa nicht? Ich will hier endlich reinen Tisch machen, Tabula rasa nicht nur in diesem chaotischen Bad, damit du endlich die nötigen Grenzen ziehst, die jedes Kind braucht, um erwachsen zu werden. Hör auf zu bocken, und lass mich herein! Okay, ich habe deinen Vater auf dem Gewissen, doch dafür bring ich von draußen das Leben.
Du aber drehst dich demonstrativ zum Spiegel, aus dem dir ein verschreckter Junge entgegenstarrt, auf den bleichen Zügen die Schminke der Mutter. Nimmst den Lippenstift und ziehst die Kontur deines Mundes nach, auch die ausgeprägte Oberlippe ein Erbe deines Vaters, der sogenannte Amorbogen, und du wirfst mir einen verächtlichen Blick zu und kräuselst
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