Moorehawke 01 - Schattenpfade
über ihr aufragte, krümmte sich Wynter zu einer festen Kugel zusammen. Mit einer riesigen Pranke packte die Köchin sie am Arm und zog sie auf die Füße, so dass Wynter vor Angst quiekte. Doch Marni presste sie nur an sich, zerdrückte sie fast an ihren gewaltigen Brüsten. Der Duft von Butter, frischem Teig und Äpfeln benebelte Wynter; sie schnappte nach Luft, während Marni sie in ihren mächtigen Armen wiegte wie einen Säugling.
»Oh, mein Mädchen! Mein Mädchen!«, stöhnte sie. »Bist du denn verrückt geworden? Hast du völlig den Verstand verloren? Eieiei …« Ihre Stimme verlor sich in einem Wehklagen und Jammern. »Meine Kleinen«, schluchzte sie, »meine armen Kleinen … Was für Zeiten, was für schreckliche Zeiten!«
Wynter wand sich und zappelte, bis sie sich zwischen all dem Fleisch etwas Luft zum Atmen erkämpft hatte. »Wirst du es tun, Marni?«, keuchte sie. »Hilfst du mir?«
Immer noch wiegte und quetschte Marni sie, und statt zu antworten legte sie ihre Wange auf Wynters Kopf und weinte, bis ihr Haar ganz nass war.
Eine Stunde später kam Wynter aus der Küche, einen Binsenkorb voller frisch gekochter Eier über dem Arm. In den Händen trug sie ein Tablett mit duftendem Weißbrot, einem riesigen Krug sahnigen Haferschleim und einer Kanne Kaffee. Auf ihrer Wange prangte ein roter Handabdruck, und in ihrem linken Ohr sauste es immer noch. Doch viel wichtiger war, dass Marni ihr hoch und heilig versprochen hatte, sie bei ihrer Flucht zu unterstützen und nach ihrer Abreise bei der Pflege ihres Vaters zu helfen.
Nun war der zweite Schritt getan, und wenn sie auch nicht
gerade leichten Herzens war, so doch zumindest ruhiger als noch am Morgen.
Die Sonne stand hoch am Himmel, als sie zurück in ihr Quartier kam, und der Empfangsraum war in helles Licht getaucht. Sie verriegelte die Tür sorgsam hinter sich und stellte alles vom Tablett auf den Tisch. Christopher musste sie gehört haben, denn er schlüpfte aus Lorcans Kammer und sah ihr mit genießerischem Seufzen über die Schulter.
»Sieh dir das an.« Er blähte die Nasenlöcher. »Ich bin halb verhungert.« Er beugte sich über sie, stibitzte sich ein Stück Brot und floh mit schuldbewusstem Grinsen, bevor sie ihm auf die Finger klopfen konnte.
»Wie geht es ihm?«, flüsterte sie.
»Ausgezeichnet. Er leidet nur unter Stolz.« Christopher sah sie freundlich an. »Er ist ein großer, starker Mann, und du bist immer noch sein kleines Mädchen. Es gibt Dinge …« Er zuckte die Achseln, wusste nicht recht, wie er es ausdrücken sollte.
Missbilligend verdrehte sie die Augen. Es war einfacher, sich an seine Verärgerung zu klammern, als darüber nachzudenken, was Lorcan machen würde, wenn Christopher erst fort war.
»Bin ich zum Frühstück eingeladen?«, wechselte er geschickt das Thema. »Sonst, weißt du …« Er legte den Kopf schief und setzte einen Hundeblick auf. »Sonst muss ich verhungern – ganz allein und verlassen in der großen, leeren Kammer.«
Allmählich gewann Christophers schmales Gesicht wieder Konturen, die Schwellung zog sich langsam von den sanft geneigten Wangenknochen und dem Kiefer zurück. Die klaren grauen Augen waren unter den zerschundenen Lidern etwas besser zu erkennen. Wynter spürte jähe, beinahe unbezähmbare
Zuneigung zu ihm, und beide hielten einen Moment inne und standen lächelnd im Sonnenschein.
»Sollen wir alles zu deinem Vater tragen?«, schlug er vor. »Möglicherweise bekommt er dann Appetit.«
Gemeinsam trugen sie den Tisch hinüber. Christopher hatte die Fensterläden geöffnet, so dass der Raum hell und luftig war, trotz der unerhörten Hitze. Unter schweren Lidern sah Lorcan ihnen vom Bett aus zu und schüttelte den Kopf, als sie ihm von den Speisen anboten. Christopher lachte nur, und während Wynter ein gekochtes Ei aß, flößte er ihm irgendwie eine halbe Schale Haferschleim und etwas Kaffee ein, ohne dass Lorcan so recht bemerkte, dass er gefüttert wurde. Bald schon schlief der große Mann ein wie ein Säugling – plötzlich und tief.
»Christopher«, flüsterte Wynter.
Er hatte am Bett gestanden und ihren Vater betrachtet, in Gedanken meilenweit weg. Nun kam er zu ihr an den Tisch. Sie hielt ihm eine Schale Haferschleim und einen Löffel hin. »Du hast gar nichts gegessen. Ich dachte, du wärest halb verhungert?«
Er stieß ein Knurren aus und stürzte sich auf das Essen, schaufelte die Schüssel in Windeseile leer und spähte in den Krug, ob es noch Nachschub gab. Sie
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