Moorehawke 01 - Schattenpfade
als Saft gewesen war.
Das Getränk, die Hitze der Küche und Razis unerschütterliche Anwesenheit in Verbindung mit der langen Reise und den schlechten Neuigkeiten – plötzlich spürte Wynter bleierne Müdigkeit. Hätte sie ihren Kopf einfach auf den krümeligen Tisch legen und einschlafen können, ohne sich vor dem Gesinde eine Blöße zu geben, dann hätte sie es getan.
»Razi«, murmelte sie matt, »lass uns nach draußen gehen, zum Fluss hinunter. Razi, lass … lass uns schwimmen gehen.«
Sie könnten sich ein Plätzchen im Schatten suchen, unter den Weiden vielleicht, und die Stiefel von sich schleudern. Wynter könnte sich bis auf das Untergewand ausziehen und tief und fest schlafen, während Razi über sie wachte, wie er es so viele Male getan hatte, als sie noch Kinder waren.
Er rührte sich neben ihr, ein Achselzucken. In seiner Stimme lag ehrliches Bedauern, trotzdem versetzten ihr seine Worte einen unerwarteten Stich der Eifersucht. »Ich kann nicht, kleine Schwester. Ich warte auf jemanden.«
»Auf wen?«, wollte sie wissen, doch da wurde Razi von einem lauten Schimpfen abgelenkt, so dass er ihre Frage nicht hörte.
»Wo zum Teufel warst du?« Beim Klang von Marnis wütender Stimme verstummten alle für einen Moment und sahen sich nach dem Gegenstand ihres Zorns um.
Eine rundliche kleine Magd schlich die Kellertreppe hinauf, die Wangen rosig und erhitzt, die Miene schuldbewusst. Eilig huschte sie zum Geschirrtisch und duckte sich an Marni vorbei, die scherzhaft drohend eine fleischige Hand erhob. Dann quetschte sich das errötende Mädchen zwischen die anderen Mägde, nahm sich ein Tuch und eine Flasche Olivenöl
und machte sich daran, die hölzernen Platten für das Abendmahl zu polieren. Sofort entspann sich ein eindringliches Gespräch zwischen ihr und ihren Kameradinnen, durchsetzt von Kichern.
Schon wollte sich Wynter an Razi wenden, um ihre Frage zu wiederholen, da bemerkte sie jemanden über die Hintertreppe nach unten in die Küche kommen. Ihr erster Gedanke war, dass der König eine Gauklertruppe angeworben und diese einen Abgesandten geschickt haben musste, um mit der Köchin über die Verpflegung zu verhandeln.
Leichtfüßig wie eine Katze glitt der Neuankömmling in seinen weichen Lederstiefeln die Stufen hinab. Akrobatenstiefel , dachte Wynter. Er besaß dieses freche Selbstvertrauen, das der Zugehörigkeit zu einer Sippe entsprang, diesen kühnen Blick, den ein Mann nur hatte, wenn er eine Bruderschar hinter sich wusste. Dieser Kerl hier würde einem entweder Honig ums Maul schmieren oder die Kehle aufschlitzen, und für beides würde man den Grund nie erfahren. Man könnte ihn tagelang durchsuchen und doch nicht alle Klingen finden, die er hinter seinem Lächeln verbarg, dachte Wynter.
Sie stellte sich vor, dass seine Leute diesen jungen Burschen für unschätzbar erachteten, aber seine Fertigkeiten waren hier nicht vonnöten. Anders als die meisten anderen Schlossküchen versorgte die von König Jonathon fahrendes Volk freigebig mit Speis und Trank. Doch das konnte der Fremde nicht wissen, und es wäre reizvoll zu beobachten, wie er sich der Naturgewalt Marni stellte.
Gähnend stützte Wynter den schweren Kopf in die Hand; sie war so unendlich müde. Mit schläfrigen, halb geschlossenen Augen wartete sie darauf, dass sich der Fremde der Köchin näherte. Auf halber Treppe blieb er stehen, strich sich das lange Haar hinters Ohr, überblickte von dort den
ganzen Raum und gab Wynter Gelegenheit, ihn näher zu betrachten.
Er war noch recht jung, achtzehn, vielleicht neunzehn. Schlank, mit einer raubtierhaften Anmut und etwa einen Kopf kleiner als Razi. Blass wie Milch war er, sein Gesicht schmal, wachsam, beinahe amüsiert und eingerahmt von langem, glattem schwarzem Haar. Keck blickte er sich ohne jede Vortäuschung von Unterwürfigkeit um.
Frech, dachte Wynter, und gefährlich. Sehr gefährlich, für sich selbst wie für andere, denn er kennt seinen Platz nicht .
Jetzt fiel der Blick des Fremden auf Marni, die gewiss kurzen Prozess mit ihm machen würde, wenn er diesen Ausdruck auf dem Gesicht behielt. Wynter wartete darauf, dass er die beflissene Maske des Höflings aufsetzte, doch zu ihrer Überraschung wanderten seine Augen an der massigen Frau vorbei und fanden die Magd mit den rosigen Wangen, die unmittelbar vor ihm in die Küche gekommen war.
Eiskalte Erkenntnis kroch Wynter das Rückgrat empor, als die Freundinnen der Magd einander mit den Ellbogen anstupsten. Das
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