Moorehawke 01 - Schattenpfade
schlenderten über die Wiese auf sie zu? Konnte es nicht einfach so sein, jetzt und hier?
Mit brüchiger Stimme wiederholte sie die schrecklichen Worte. Mortuus in vita – der König erklärte Alberon für »tot im Leben« … Das wäre, als hätte es ihn nie gegeben. Selbst wenn ihr geliebter Freund noch lebte, könnte er ebenso gut ein Geist sein, denn wenn man ihn einmal für mortuus erklärt hatte, dann war er kein Prinz mehr. Er war nicht einmal mehr ein Mensch. Er war schlicht und einfach nicht mehr da.
»Razi, das kann er nicht tun … Warum sollte er? Das kann er einfach nicht tun!«
»Er kann, und er hat die feste Absicht«, mischte sich plötzlich Christopher ein und hielt die Nadel hoch. »Und Razi hat die Absicht, ihn daran zu hindern. Und jetzt lass ihre Hand los, Razi, sonst brichst du sie ihr noch, wenn ich zu nähen beginne.«
Als Christopher endlich fertig war, zitterte Razi am ganzen Körper und war schweißgebadet. Wynter weinte leise, während sie von hinten seine Schulter ruhig hielt. »Es ist vorbei. Er ist fertig …« Unaufhörlich flüsterte sie ihm ins Ohr, seine feuchten Locken streiften ihre Wange.
Christopher sah seinem Freund in die Augen und ließ die Flasche über der gereizten Wunde schweben. Er wartete, bis Razi sich gefangen hatte. Endlich hob Razi den Kopf, umklammerte die Armlehne noch fester, setzte die Beine auf den Boden und nickte knapp. Wynter stützte sich schwer auf seine Schultern, und Christopher goss die restliche Flüssigkeit über die Wunde, um sie zu desinfizieren und durch die duftende, zischende Spülung gleichzeitig die Blutklumpen abzuwaschen.
Razi dämpfte seinen Aufschrei in Wynters Arm, trommelte mit den Fersen auf den Boden und grub die Fingernägel ins Holz. Ruhig drückte Christopher einen frischen Baumwollbausch auf die Wunde und legte einen neuen Verband an.
Als schließlich alles erledigt war, zog Wynter den Umhang fester um Razi und umarmte ihn von hinten, den Kopf in seinem Nacken vergraben. Keiner sprach ein Wort.
Christopher stand auf, seine Gerätschaften und die zahllosen blutigen Stoffstücke ordentlich auf den Armen gestapelt. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er leise und schlich durch die Geheimtür in seine Gemächer.
Bald regte sich Razi, schob Wynter etwas von sich weg und
tätschelte ihre Schulter. »Ich muss gehen, Wyn. Wir haben so viel zu erledigen …«
»Gehen? Wohin denn?«
Doch er stand bereits auf, drückte sich mit bebenden Armen aus dem Stuhl hoch. »Ich muss diesen Kerl befragen, der den Dolch auf mich geschleudert hat … Ich muss mit eigenen Ohren hören, was er zu sagen hat.«
Das verstand Wynter, denn sie wusste, wie wichtig Auskünfte aus erster Hand waren, und zollte Razis Klugheit Beifall. Doch er schwankte, blinzelte sie mit angeschwollenen, blutunterlaufenen Augen an, sein nackter Oberkörper glänzte vor Schweiß. Sie legte ihm die Hand auf die Brust und appellierte an den Arzt in ihm. »Razi, du musst dich erst abtrocknen, warten, bis dein Körper wieder zur Ruhe gekommen ist, etwas Warmes überziehen. Wenn du in diesem Zustand ins Verlies gehst, dann hast du noch vor dem Morgengrauen eine Lungenentzündung. Und wer kümmert sich dann um Alberon?«
Er zauderte noch kurz, dann setzte er sich wieder hin, und sie schob ihm einen Becher warme Milch und den Stapel geröstetes Brot vor die Nase. »Ich sage Christopher, dass er dir trockene Kleidung bringen soll«, erklärte sie und schlüpfte in die staubige Schwärze des Geheimgangs.
Zaghaft tastete sie sich in das schwach beleuchtete Innere von Razis und Christophers Quartier. Es verbreitete diesen männlichen Geruch, etwas Verwahrlostes, Unaufgeräumtes. Bücher und andere Dinge lagen überall verstreut. Sie musste lächeln: So war Razi. Als sie noch Kinder gewesen waren, hatte seine Kammer genauso ausgesehen. Die erste Tür musste seine sein, da hier ein solches Durcheinander herrschte.
»Christopher?«, rief sie leise, um die Soldaten im Gang nicht aufmerksam zu machen. Vor der nächsten Tür blieb sie stehen. Hier musste Christophers Kammer liegen. Es war
vollkommen still, und außer einer Kleidertruhe befanden sich keine Besitztümer darin, nichts lag herum.
Aus dem Empfangsraum drang ein Schaben. Sie trat in die Tür und kniff die Augen zusammen, um im Dämmerlicht etwas erkennen zu können. Trotz der sommerlichen Hitze brannte ein Feuer im Kamin. Offenbar hatten die beiden es angezündet, um die Gerätschaften abzukochen, und tatsächlich hing
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