Moorehawke 02 - Geisterpfade
weiterhin eine grimmige Miene. »Hast du deinen Vater allein gelassen?«, fragte er ohne Umschweife.
Da ließ Wynter den Kopf sinken, ihren Augen schnellten zu Christopher, den die Frage aufgeschreckt hatte. Er sah sie unverwandt an, der Löffel schwebte über dem Topf.
Einen schmählichen Moment lang, während sie in Christophers
aufgerissene Augen blickte, war Wynter versucht zu lügen. War ernstlich versucht zu sagen, sie sei bis zum Schluss bei Lorcan geblieben und habe ihn erst verlassen, als sie nichts mehr tun konnte. Doch stattdessen nickte sie. Traurig und ungläubig senkte Christopher den Blick.
»Du … Nach allem, was dieser Mann getan hat?« Razis Stimme war leise und kalt, Wynter empfand seine Enttäuschung wie ein Brennen. »Wie konntest du nur, Wynter? Wie konntest du ihn so im Stich lassen?«
»Lass sie in Ruhe, Razi«, befahl Christopher sanft. »Wir alle haben Lorcan im Stich gelassen.« Er sah seinen Freund an. »Und alle aus demselben verdammten Grund. Also lass sie in Ruhe und setz dich.«
Beim Klang der ruhigen Bitterkeit in Christophers Stimme sank Razi in sich zusammen. Wynter lächelte ihn an, doch er wandte sich ab, nickte und hockte sich neben den Topf.
Sie aßen schweigend, dann deckte Christopher den Rest des Essens ab und stellte ihn für das Frühstück beiseite. »Diese blöden Bohnen«, grummelte er. »Mit meinen Blähungen könnte ich einen ganzen Sumpf füllen.«
Razi ging die Essschalen reinigen, während Christopher sorgfältig einen Apfel durch drei teilte. »Hier.« Er streckte Wynter ihr Stück hin. Als sie danach griff, trafen sich ihre Blicke. »Geht es dir gut?«, fragte er.
Dankbar nickte sie. »Ja.«
Etwas unsicher musterte er sie von Kopf bis Fuß, ließ das Apfelstück los und wandte sich ab. Razi kehrte zurück und setzte sich im Schneidersitz auf seine Schlafmatte, das Nähzeug in der Hand, und Christopher warf ihm sein Apfeldrittel zu, das er geschickt auffing.
»Das ist der letzte.« Christopher lehnte sich rücklings an
seinen Sattel und blickte hinauf in die Baumkronen. Ruhig scharrten die Pferde in der wachsenden Finsternis. Wynter seufzte und biss in ihren Apfel; er war gut – saftig und fest.
»Was machst du hier, Wynter?« Razis Stimme klang unwillig, und er sah nicht von dem Riss in seiner Hose auf.
»Dasselbe wie du, Razi. Ich möchte zu Alberons Feldlager und herausfinden, was er vorhat.«
Christopher schnaubte laut. »Na dann viel Glück bei der Suche. Wir haben weit und breit nichts entdecken können, seit wir aufgebrochen sind. Seit einer Woche kommen wir keinen Schritt weiter. Diese Burschen da drüben sind das erste Anzeichen, das wir gefunden haben, seit wir diesen Wald betreten haben. Weißt du, was, Razi«, sinnierte er und zupfte sich Apfelschale aus den Zähnen. »Ich glaube, dieser Combererspion im Schloss hat dir einen Bären aufgebunden. Dein Bruder ist nicht hier.«
Wynter setzte sich kerzengerade auf. »Wisst ihr denn nicht, wo er ist?«, rief sie aufgeregt.
»Nein, Wynter, das wissen wir nicht«, gab Razi zurück und riss den Faden ab. Spöttisch verzog er das Gesicht, während er die Nadel verstaute. »Du etwa?«
Da grinste Wynter nur breit.
Razi riss die Augen auf, Christopher stützte sich auf die Ellbogen.
»Großer Gott!«, rief Razi, und seine Mundwinkel wanderten langsam höher. »Wynter, ist das dein Ernst?«
Wynter erzählte ihnen von Isaacs Geist und dem Indirie-Tal. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit den Comberern und den Haunardiern und ihren Bemerkungen über den Rebellenprinzen. Als sie geendet hatte, war die Nacht hereingebrochen.
Ein fast voller Mond schien durch die Bäume herab und verlieh den schweigend lauschenden Männern im Dunkeln das Aussehen von wachsamen Gespenstern.
»Das Indirie-Tal«, murmelte Christopher. »Wir müssen morgen unsere Landkarten studieren, mein Freund.«
»Aber ich kenne den Weg«, sagte Wynter. »Es sind noch zehn Tagesreisen.«
Der helle Fleck, der Christophers Gesicht darstellte, hüpfte auf und ab, als er nickte.
»Haunardier«, flüsterte Razi. Mit seiner dunklen Haut und Kleidung war er beinahe unsichtbar, doch als er sich ihr zuwandte, konnte Wynter seine Augen aufblitzen sehen. »Ach, Schwesterchen, was denkt er sich nur dabei?«
»Ja, ich weiß«, erwiderte sie sanft. »Die Comberer sind schon schlimm genug, nach allem, was unsere Väter unternommen haben, um dieses Land von der Engstirnigkeit zu befreien … Aber die Haunardier? Was glaubt Alberon, was
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