Moorehawke 02 - Geisterpfade
sehr, sehr leise. Christopher hob mit Tränen im Blick den Kopf, und Embla ergriff die Hand ihres Bruders. Abermals verstummte die Trommel, und alle drehten sich zu den Caoirigh um, deren Augen zuckende Abgründe aus Schatten waren. Man spürte
deutlich, dass etwas kurz bevorstand, dass der Augenblick gekommen war. Fieberhaft tastete Wynter im Laub umher, bis sie einen Ast fand. Sie zog ihn dicht an ihren Oberschenkel und starrte weiter Christopher an, wartete darauf, dass er sich rührte.
Die Merroner sprachen, ihre Stimmen klangen so voll und monoton wie die der Gläubigen in einer Messe der Mittelländer. Mit ausgestreckten Armen trat Hallvor aus der Dunkelheit des Scheiterhaufens, ihre Schnüre wanden sich hungrig in der leichten Brise. Die Trommel hub erneut zu schlagen an, sehr laut nun.
Hallvor ging zu Embla und sagte mit freundlichem Lächeln etwas zu ihr.
Unwillkürlich machte Embla einen Schritt rückwärts, und Ashkrs Griff um ihre Hand verstärkte sich, um sie festzuhalten. Auch er lächelte sie an und flüsterte. Da rannen Embla Tränen über die Wangen, als sie in sein liebevolles Gesicht blickte, und Ashkr beugte sich vor, so dass sich ihre Stirnen berührten. Mit brüderlicher Fürsorge sprach er weiter auf sie ein, bis Hallvor den Arm zwischen sie streckte und Emblas Hand nahm. Unendlich sanft zog sie Embla von ihrem Bruder fort. Einen Moment noch blieben die Stirnen der Geschwister vereint, dann war Embla gezwungen, sich zu der Menge umzudrehen. Sie stockte nur kurz, dann straffte sie die Schultern und warf die Arme hoch.
»Ar Fad do Chroí an Domhain« , sagte sie mit brechender Stimme. Und noch einmal, lauter, mit wahrer Kraft und Überzeugung nun: »Ar Fad do Chroí an Domhain!«
Die versammelten Menschen brüllten ihre Freude heraus.
Jetzt legte Hallvor Emblas ausgestreckte Arme zusammen wie zum Gebet und knotete sie mit schwarzer Schnur geschickt zusammen. Der Trommelschlag schwoll an, die Merroner
sangen tief. Einige begannen, mit geschlossenen Augen hin und her zu schaukeln.
Rasch wickelte Hallvor das Seil um Emblas Leib und band ihr so die hellen Arme vor die Brust. Dann legte sie ihr eine Schlinge um den Nacken, wieder zurück auf die gefesselten Handgelenke hinab und zog die Schnur fest. Das lose Ende hielt sie in den Händen wie eine Art Leine und führte Embla daran vor ihrem Volk herum, die Arme triumphierend gereckt.
»Féach!« , rief sie. »Féach! Caora an Domhain!«
Die Umstehenden jubelten, hoben die Arme über die Köpfe und klatschten ein Mal in die Hände.
Plötzlich rannten alle Frauen aus der Gruppe nach vorn und drängten sich um Embla, liebkosten und küssten sie, streichelten ihren Rücken und berührten ihr Haar, stützten sie unter den Ellbogen und um die Taille. Mit Hallvor an der Spitze liefen sie um den Scheiterhaufen herum, und Embla schritt ruhig in ihrer Mitte, das Gesicht von Wynter abgewandt. Wari folgte ihnen verhalten.
Wie gebannt sah Wynter zu, wie die Frauen aus ihrem Sichtfeld verschwanden, und wandte sich verzweifelt Christopher zu. Gewiss musste er doch bald eingreifen? Er konnte doch nicht zulassen, dass die Zwillinge getrennt wurden?
Das Blut von Christophers Stirn war zu beiden Seiten der Nase hinuntergeflossen und hatte rote Flecke unter den Augen hinterlassen. Sein Mund war verschmiert. Wynter duckte sich tiefer auf den Boden, umklammerte ihren armseligen Ast und hoffte inständig, er würde etwas unternehmen, doch er stand nur regungslos an Ashkrs Seite.
Während die Frauen Embla auf den rückwärtigen Teil der Lichtung führten, blieben die Männer, wo sie waren, die Blicke fest auf Ashkr gerichtet, dessen Atmung sehr flach und
rasch ging. Im Schatten des Scheiterhaufens bewegte sich die wartende dunkle Gestalt Úlfnaors, die Fackeln glitzerten in seinen Augen. Eine lange, geduldige Stille entstand.
Da trat Ashkr unvermittelt einen Schritt zurück, und Christopher hob überrascht den Kopf. Zum ersten Mal sah Wynter seine starre Maske von ihm abfallen und die altvertraute, messerscharfe Entschlossenheit in seine Miene zurückkehren. Mit fragendem Blick legte er den Kopf schief.
Wynter hob ihren Ast, bereit, loszustürmen; was genau sie zu tun vorhatte, wusste sie selbst nicht. Weder sie noch Christopher hatten ein Schwert, auch keinen Schild, keinen Dolch. Keine Hoffnung , dachte sie verzagt, den Ast umklammernd. Es gibt keine Hoffnung für uns .
Ashkr hob die schönen Hände, als wollte er mit ihnen Worte formen. Er sprach leise, die
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