Moorehawke 02 - Geisterpfade
der Wind heute oder morgen weht. Ich weiß nur, dass mein Volk abhängig sein muss vom Wohlwollen dieses Volkes.« Er tippte wieder auf die Mappe. »Ich darf sie nicht verärgern, denn sie könnten das Leben meines Volkes in ihrer Hand halten … aber Tabiyb.« Er beugte sich vor, drängend nun, beschwörend. »Tabiyb, in meinem Herzen hoffe ich, dass Ihr es seid, der die Merroner in seiner Hand hält. Ich hoffe, dass Ihr es seid und Euer Guter König Jonathon. Denn sonst …« Úlfnaor zögerte, er hatte Angst, seinen Befürchtungen Ausdruck zu verleihen, und als er weitersprach, waren seine Worte kaum zu hören. »Sonst glaube ich, dass alles verloren ist für uns. Dass alles verloren ist für jedermann.«
»Was enthalten diese Dokumente?«, wollte Razi unvermittelt wissen, auf die Mappe deutend.
Wynter krümmte sich innerlich. Razi forderte den Aoire
damit unverblümt auf, Shirkens Vertrauen zu missbrauchen, seine Pflicht zu verletzen und den Eid zu brechen, den er gewiss hatte schwören müssen, als er diese Aufgabe übernahm.
Úlfnaor runzelte die Stirn, die Lippen missbilligend zusammengepresst. »Selbst wenn ich es wüsste«, tadelte er, »würde ich es Euch nicht sagen.«
Razi machte zwar ein missmutiges Geräusch, doch Wynter wusste genau, dass er nicht ernstlich damit gerechnet hatte, diese Auskunft von Úlfnaor zu erhalten.
Abermals strich Úlfnaor mit seinen rauen Fingern über die Prägung auf dem Deckel der Mappe. »In vielerlei Hinsicht bin ich genau der Richtige, um zu überbringen diese Papiere«, sagte er leise. »Ich bin sehr stolz, deshalb ich werde meinen Eid niemals brechen. Ich bin meinen Leuten treu ergeben, daher ich bitte um nichts weiter als die Möglichkeit, für die Meinen zu verhandeln. Hinter mir stehen viele treue Krieger, die für mich sterben würden, wenn nötig. Und außerdem bin ich ein ungebildeter Wilder , der nicht einmal lesen kann seinen eigenen Namen.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Mappe, die Oberlippe voller Bitterkeit verzogen. »Selbst wenn ich das Bündel hier öffne und all die hübschen kleinen Siegel breche, was könnte ich schon erfahren über die Zukunft meines Volkes? Gar nichts!« Er spie das Wort geradezu aus. »Nichts. Ich habe nicht die Fähigkeit zu verstehen.« Er fegte mit der Hand über die Dokumente, als wäre er versucht, sie ins Feuer zu werfen.
»Schon immer mein Volk hat für sich selbst gesorgt, mit diesen hier.« Er streckte Razi seine Hände hin, die wunderschön geschmiedeten Ringe blitzten im Feuerschein, in die Handflächen hatte sich die Arbeit eines ganzen Lebens eingegraben. »Und mit dem hier.« Mit einem Ruck zerrte er sein Schwert hervor und hielt es hoch. »Seit An Domhan sich
einst in Mensch und Tier und Baum aufgespaltet hat, waren das die einzigen Dinge, die wir brauchten zum Überleben. Die Merroner sind stark, Tabiyb Razi, wir sind schlau, wir sind tapfer! Wir brauchen niemanden außer uns selbst !« Úlfnaor schüttelte die Waffe mit beiden Händen, seine Enttäuschung und Wut entrangen sich ihm in einem leisen Ausruf. Dann schleuderte er die schimmernde Klinge zu Boden. »Aber nicht mehr«, sagte er. »Jetzt nicht mehr.«
Über die Schulter blickte er zu seinen Leuten. »Die Welt um uns herum hat sich verändert. Unser Leben liegt nicht länger in unseren eigenen Händen.« Damit drehte er sich wieder zu Razi um, und die folgenden Worte ließen Wynter das Blut in den Adern gefrieren. »Ich könnte Euch töten, Tabiyb. Hier auf dieser Lichtung, mitten in diesem Wald könnte ich Euch mühelos auslöschen. Ihr wäret tot, mein Volk wäre sicher vor Euch. Das wäre mir ein Leichtes, das weiß ich wohl. Doch ich weiß auch, dass jenseits dieser Lichtung, wenn wir das Lager des Rebellenprinzen erreichen, Ihr der Stärkere sein werdet. Dort könnt Ihr mich auslöschen, und mein Volk mit mir.« Er stand auf. »Indem ich Euch am Leben lasse, Tabiyb Razi, lege ich das Leben meines Volkes in Eure Hände. Und deshalb ich biete Euch mich selbst an, als ceap milleáin . Wenn Ihr es wünscht. Ich bitte Euch nur, zuerst meine Aufgabe beenden zu dürfen.«
Mit erwartungsvoller Miene wartete er auf eine Antwort. Wynter sah den Aoire verwirrt an. Was war ein ceap milleáin ? Neben ihr verhielt sich Christopher still, und sie vermied es, ihre Unwissenheit durch einen fragenden Seitenblick zu verraten.
Razis Gesichtsausdruck blieb unverändert, er hielt den Blick weiterhin starr in die Flammen gerichtet, die Hände zwischen den Knien
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