Moorehawke 02 - Geisterpfade
auf ihn und zerrte ihn stürmisch an ihre Brust. Sie war einen guten Kopf größer und ziemlich ergriffen, und sie drückte ihn so fest, dass Wynter Sorge um seine Rippen bekam.
Aber Christopher lachte nur an der knochigen Brust der Frau, murmelte etwas Besänftigendes und hob den Arm, um ihr den Rücken zu tätscheln, wobei er versehentlich dem Mann seine Hände zeigte. Beim Anblick der grauenhaften Narben brüllte der entsetzt auf und zerrte ihn an den Handgelenken zu sich. Er hielt sich Christophers Hände vor die Augen, als glaubte er nicht, was er da sah, und stieß einen Schrei der Erschütterung aus. Die Frau jammerte laut.
Mit verzweifelter Miene versuchte Christopher, sich dem Griff des bestürzten Mannes zu entziehen; er sagte etwas und unternahm einen kümmerlichen Versuch, sein übliches Grinsen aufzusetzen, doch der Musiker ließ ihn nicht los und starrte weiterhin Christophers zerstörte Hände an. Die Menge verstummte, und Wynter wurde bang ums Herz. Neben ihr stöhnte Razi leise. Das war gewiss überhaupt nicht das, was sich Christopher gewünscht hatte.
Lastendes Schweigen breitete sich aus, und Wynter befürchtete bereits, der Abend wäre für ihren Freund verloren. Da befreite sich Christopher endlich aus dem Griff des Mannes, machte einen Satz zur Seite und schnappte sich eine der großen, flachen Trommeln, die die Merroner so liebten. Er wirbelte zur Menge herum und begann mit einem Schrei, einen raffinierten, schnellen Rhythmus zu schlagen.
Alle starrten ihn an.
Kommt schon! , flehte Wynter die Umstehenden im Geiste an. Kommt schon!
Abermals stieß Christopher einen lauten Ruf aus und stampfte im Takt mit dem Fuß. Wynter fing an, zu den Trommelschlägen zu klatschen.
Plötzlich stimmte ein Mann in der Menge lauthals einen Kontrapunkt zu Christophers mitreißendem Rhythmus an. Ein anderer fiel in Wynters Klatschen ein, und allmählich spürte man den Boden unter dem Trampeln der Füße in Schwingung geraten.
»Ja!«, rutschte es Razi halblaut heraus.
Die jüngere Musikerin kam abrupt auf die Füße, nahm ihre Fidel und schob sie sich unters Kinn. Einen Moment lang stand sie mit geschlossenen Augen da, den Bogen über den Saiten schwebend, und wartete, bis ihr Körper den Takt der Trommel eingefangen hatte. Dann spielte sie auf, ließ sich einfach mittreiben, und unter ihren fliegenden Händen erklang Musik, so fröhlich wie Sonnenschein. Mit wehenden Haaren und glücklich leuchtender Miene drehte sich Christopher zu ihr um.
Unterdessen bückte sich die ältere Frau unter den Tisch, und als sie wieder hochkam, hielt sie eine Flöte an die Lippen. Ein paarmal im Takt der Musik genickt, und schon war auch sie mit der Melodie verschmolzen und wurde von der schieren Freude, der Ausgelassenheit der Trommel emporgetragen. Die Menge brüllte und stampfte, und Christopher jauchzte. Endlich klemmte sich auch der Mann seine Fidel unter die Wange und spielte auf.
Lange standen Wynter und Razi dort und sahen zu, wie Christopher völlig in dem aufging, was er früher einmal gewesen war. Dann kam der Wirt, klopfte vor Wynters Füßen
auf die Tischplatte und sah sie und Razi streng an. Wynter errötete, wischte sich die Augen und kletterte sittsam vom Tisch.
Razi allerdings ließ sich reichlich Zeit. Während er in aller Ruhe von der Bank stieg, schielte Wynter zum Tisch der Merroneredlen hinüber, und zu ihrem Entzücken bemerkte sie, dass die Frau dort Wynters großen, langbeinigen Piraten sehr anerkennend betrachtete. Ohne den gelassenen Blick vom Wirt abzuwenden, schob Razi sein Schwert an die Seite und faltete die Hände auf dem Tisch.
Erheitert lachte die Merronerin und beugte sich zu ihrem Sitznachbarn, um ihm etwas ins Ohr zu sagen. Der drehte ihr liebevoll lächelnd das Gesicht zu, und Wynter erkannte, dass die beiden Zwillinge waren. Ganz ohne Zweifel: Sie waren gleich groß, schlank und hochgewachsen, hatten dieselben schrägen Wangenknochen und klaren dunkelblauen Augen. Die Züge des Mannes waren etwas schwerer als die der Frau und von einem gepflegten Bart geschmückt, doch beiden war eine kühle Schönheit gemein, bei der Wynter an kunstvolle Wandteppiche und alte Märchen denken musste.
Nun schob sich der Mann das Haar hinters Ohr und lauschte seiner Schwester. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, und er musterte Razi erheitert von oben bis unten, während seine Schwester erneut zu Wynters und Razis Tisch blickte. Beide Geschwister hatten üppiges, leuchtend blondes Haar, und
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