Moorseelen
in der Hand. Barfuß huschte ich den Flur entlang zur Haustür. Ich war schon fast daran vorbei, als mir zur Linken eine Tür auffiel, die nur angelehnt war.
Zenos Zimmer.
Mein Herz klopfte so heftig, dass ich die Schläge bis in den Kehlkopf spürte. Trotzdem konnte ich meine Neugierde nicht bezähmen. Ganz leicht tippte ich mit den Fingerspitzen gegen das Türblatt. Lautlos schwang es zur Seite. Aus dem Zimmer drang ein schwacher bläulicher Lichtschein. Ich blieb stehen. War jemand dort drin? Deva sollte eigentlich noch in Potsdam sein. Aber was wäre, wenn nicht? Würde sie im nächsten Augenblick in ihrem Rollstuhl herausgefahren kommen und mich fragen, was ich hier tat? Riefe sie am Ende nach ihrem Sohn, würde sie ihn suchen? Meine Lunge begann zu brennen, weil ich erneut so krampfhaft die Luft anhielt, als könnte ich damit die Zeit am Verstreichen hindern. Nichts passierte. Ich spähte ins Zimmer. Es war leer. Auf Katzenpfoten machte ich ein paar zögernde Schritte ins Innere. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was ich da sah: Das matte Leuchten ging von einem Notebook aus, über dessen Bildschirm im Standby-Modus sanfte wasserblaue Schlieren waberten.
Ein Laptop in der Oase? Hätten in der Gemeinschaftsküche auf dem Herd plötzlich Schnitzel gebrutzelt, ich wäre nicht überraschter gewesen.
Und dann stand auf einmal die Lösung der Frage fast greifbar im Raum: Die Kamera im Nebenzimmer war der Schlüssel. Irgendwohin mussten die Aufnahmen ja übertragen werden! Ich hatte mit Technik zwar nie viel am Hut gehabt, aber in der Firma meines Vaters gab es Überwachungskameras, deren Datenübertragung mit Funksignalen funktionierte. Mithilfe von W LAN wurden die Aufzeichnungen der Webcams direkt an die Rechner an der Pforte übertragen. Hier in der Oase musste es ähnlich sein. Ausgerechnet Zeno, der Handy und Internet stets verteufelte, war offenbar prima mit der »bösen« Technik vertraut!
Ein Teil meines Verstandes sagte mir, ich sollte jetzt lieber schleunigst von hier verschwinden, aber meine Füße schienen am Boden festzukleben und Neugierde war der Kleister. Ich streckte die Hand aus und drückte auf eine Taste. Gleich darauf wurde der Bildschirm klar. Auf dem Desktop waren mehrere Ordner angelegt, die die Namen der Oasenbewohner trugen. Einer davon hieß »Urs«. Ein zittriger Doppelklick – und vor mir öffneten sich mehrere Dateien mit der Endung »mp4«. Davor standen Zahlen, die ich nach kurzer Überlegung als Datumsangaben identifizierte. Die letzte Datei in der Liste war mit 05/07 beziffert, sie stammte also wahrscheinlich von Anfang Juli. Ich rechnete nach. Mia war Ende Juni verschwunden. Wenig später hatte ich sie im Moorsee gesehen. Die Aufnahme stammte von dem Tag, als ich völlig aufgelöst Deva und Zeno von meinem Fund berichtet hatte!
Wie unter einem Zwang klickte ich mit der Maus zweimal auf das Symbol. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Fenster und ich sah den vertrauten Raum, in dem ich mit Zeno gesessen und über mich und meinen Vater gesprochen hatte. Jetzt sah ich tatsächlich Urs auf dem Boden kauern.
»Nun?«, fragte Zenos Stimme auf einmal in die Stille. Ich zuckte heftig zusammen und wäre fast vom Stuhl gefallen. War er etwa aufgewacht? Dann aber realisierte ich, dass seine Stimme nur aus dem Computer kam.
Urs hob nicht einmal den Kopf. Nur seine Schultern zuckten: Er weinte. Aus Schuldgefühlen? Weil er Mia getötet hatte? Heftig klickte ich auf das Stopp-Symbol. Mein Atem ging schnell und keuchend. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren, schon allein wegen Nick. Wenn ihm etwas passiert war, musste ich so schnell wie möglich zur Polizei. Am besten nahm ich das Notebook mit, auch wenn es bei meiner Flucht nur hinderlich sein und sein Fehlen Zeno, wenn er aufwachte, sofort auffallen würde. Ich war schon dabei, das Stromkabel zu ziehen, da kam mir eine andere Idee. Hastig aktivierte ich den Browser und ging in meinen Freemail-Account. Mein Passwort konnte ich blind eintippen. Die Betreffzeile ließ ich leer, dafür aktivierte ich die Funktion »Anhang«. Dann klickte ich auf die Datei »05/07«, ehe ich »Senden« drückte. Ein Balken wurde am Bildschirm sichtbar, der den Ladevorgang anzeigte. Es schien Stunden zu dauern. Quälend langsam arbeitete er sich auf zwanzig, dann auf dreißig Prozent vor. Ich wurde immer nervöser. Ich hatte nicht bedacht, dass so ein Video meist mehrere Mega- oder sogar Gigabyte hatte. Mist! Ich zerbiss mir fast meine Finger vor
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