Moorseelen
die Male bereits erkannt. Eine ähnliche Narbe hatte mein Vater behalten, nachdem er vor Jahren versehentlich an seinen heißen Lötkolben gekommen war.
»Hast du dich hier in der Küche verbrannt?«, fragte ich vorsichtig.
Lukas schüttelte stumm den Kopf. »Zigarette«, gab er knapp Auskunft. Weil ich ihn immer noch fragend ansah, seufzte er. »Das gab’s bei mir zu Hause, wenn man sich ungefragt aus dem Kühlschrank bedient hat.«
Ich sog scharf die Luft ein. Also hatte Zeno gestern mit seinem Satz über kaputte Familien die von Lukas gemeint. Unwillkürlich hatte ich das Bild eines dicken Mannes im Unterhemd vor Augen. In seinem Mundwinkel hing eine halb gerauchte Kippe, und eine Mischung aus Schweiß und Alkohol wehte mit ihm in die schmuddelige Küche, auf deren Anrichte sich leere Bierflaschen stapelten. Der Blick des Mannes blieb an einem schmalen Jungen mit Rastalocken hängen, der, die Hand noch am Griff der Kühlschranktür, ertappt zusammenzuckte. Die geröteten Augen des Dicken verengten sich zu boshaften Schlitzen, als er Lukas am Arm packte und ihm ohne Vorwarnung das glühende Ende seiner Zigarette auf die weiche, zarte Stelle knapp über dem Handgelenk drückte. Zwei Mal. Fast konnte ich Lukas’ Aufschrei hören und seine verbrannte Haut riechen … »Mann, Lukas. Das ist …«, setzte ich an und stockte. Ich fand keine Worte für das, was ihm angetan wurde. Doch er unterbrach meine Überlegungen mit einem Kopfschütteln.
»Denk nicht weiter drüber nach, ich tue es auch nicht«, sagte er. »Es war falsch von mir, überhaupt davon anzufangen. Damit gibst du der Vergangenheit Macht über die Gegenwart – und das bringt dich keinen Schritt weiter«, fügte er belehrend hinzu.
Ich war verwundert, so hochgestochene Worte aus seinem Mund zu hören. Er klang wie der olle Platon. Trotzdem hatte er nicht vielleicht recht? Holte mich meine Vergangenheit in Form von Wut auf meinen Vater und die dumpfe, graue Trauer um meine Mutter nicht auch immer wieder ein?
Während ich noch über seine Worte nachdachte, spürte ich, wie mir etwas in die Hand gedrückt wurde. Die Bonbons! Ich hatte sie ganz vergessen.
»Schokolade gefüllt mit Espresso. Meine absolute Geheimwaffe, wenn’s mir mal so geht wie dir heute«, sagte Lukas. Er lächelte schon wieder und wirkte wie ausgewechselt.
»Danke«, murmelte ich.
Er nickte. »Darfst es nur keinem verraten«, wisperte er verschwörerisch.
Wie ein Raubvogel auf die Feldmaus stürzte ich mich auf die Beute und stopfte beide Bonbons gleichzeitig in den Mund. Die dunkle Süße der Schokolade vermischte sich mit dem bitteren Espressogeschmack und ich hätte diese Aromen am liebsten ewig auf meiner Zunge zergehen lassen. »Lukas, du bist ein Engel«, verkündete ich feierlich. Tatsächlich bildete ich mir ein, dass es mir schon besser ging.
Lukas grinste schief und zuckte die Schultern, eine Geste, die besagte »schon okay«. Er drückte mir zwei Gläschen in die Hand: eins mit Basilikum-Knoblauch-Pesto und eins mit der Rote-Bete-Mixtur, die ich auch schon gegessen hatte. »Bring die zu Deva rüber, sie mag die Sachen immer ganz frisch«, trug er mir auf und tat, als wäre nichts geschehen.
Gehorsam trabte ich los. Ich war etwas nervös, Zenos Mutter aufzusuchen. Gestern hatte ich ihr ja nur kurz die Hand geschüttelt, aber ihre Behinderung machte mich immer noch befangen. Gereizt schalt ich mich selber als verklemmt und albern, während ich den Weg zu dem kleinen Schuhschachtelhaus einschlug. Deva hatte freundliche Augen, und wenn ich gehemmt war, weil sie im Rollstuhl saß, hatte ja wohl eindeutig
ich
ein Problem und nicht sie. Trotzdem fiel mein Klopfen an der Haustür etwas zaghaft aus. Zuerst dachte ich, Deva hätte es nicht gehört, doch da wurde die Tür aufgerissen. Von Mia. Über der Schulter trug sie ein Bündel in Hellblau, von dem ich zuerst dachte, es wäre eine Puppe. Doch dann drehte die Puppe den Kopf mit den blonden, dünnen Locken und krähte: »Ga!«
»Das ist ja ein Baby!«, entfuhr es mir perplex. »Wo kommt das denn her?«, setzte ich nicht sehr intelligent nach.
»Och, das hab ich grade an der Losbude gewonnen«, gab Mia schlagfertig zur Antwort und fügte grinsend hinzu: »War der Hauptgewinn!«
Ich musste lachen. »Sorry für die dämliche Frage, aber ich wusste nicht … ich meine …« Ich brach ab. Was hätte ich sagen sollen? Offenbar war es Mias Baby und sie hatte es bis jetzt nie erwähnt. »Junge oder Mädchen?«, versuchte ich,
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