Moorseelen
dunkle Schatten unter den Augen.
»Hi, Lukas«, rief ich und lief zu ihm. Eine Sekunde lang sah er richtiggehend erschrocken aus, dann aber verschwand der gehetzte Ausdruck aus seinem Gesicht und er lächelte, wenn auch etwas bemüht. »Ich hab gehört, du machst einen auf Mahatma Gandhi«, bemühte ich mich um einen lockeren Tonfall.
Lukas starrte mich an, offenbar begriffsstutzig.
»Na, du fastest. Hat mir Kali erzählt«, erklärte ich.
Lukas nickte nur mit ausdrucksloser Miene.
»Machst du das öfter?«, wollte ich wissen. Lukas senkte den Kopf. »Nur wenn es … nötig ist«, sagte er stockend. Ich starrte ihn an. Der blasse, wortkarge Junge, der jetzt vor mir stand, hatte so gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem flippigen Rasta, für den ich ihn anfangs gehalten hatte. Ob er irgendwas genommen hatte? Er wirkte ziemlich neben der Spur. Vielleicht, weil er seit gestern Morgen nichts im Magen hatte. Aber was meinte er damit, wenn das Fasten »nötig war«? Als ich ihn fragte, schüttelte Lukas nur den Kopf. »Wir müssen unseren Körper ab und an von Altlasten reinigen, genau wie unseren Geist. Aber das verstehst du nicht«, murmelte er. »Du bist noch nicht lange genug bei uns!«
Ehe ich noch reagieren konnte, schlurfte er schon mit einem genuschelten »muss was erledigen« davon. Ratlos sah ich ihm nach. Vielleicht würde er mir später beim Küchendienst mehr erzählen. Doch als ich den gefliesten Raum betrat, stand nicht Lukas an der Spüle, sondern Urs.
»Wo ist Lukas, hat er frei?«, fragte ich forsch.
»Ich bin heute eingeteilt«, gab Urs ausdruckslos zur Antwort. Ausgerechnet, dachte ich. Der massige Junge hatte irgendwas an sich, was mir Unbehagen bereitete. Und auf einen Koffein-Shot konnte ich damit auch nicht mehr hoffen. Schweigend arbeiteten wir nebeneinanderher. Ich hatte keine Lust, mit Urs zu reden, und er schien sowieso nicht gerade der Typ »Entertainer« zu sein. Außerdem war ich unausgeschlafen und knatschig wegen des ungenießbaren Frühstücks. Ich hütete mich, meine Gedanken laut auszusprechen. Trotzdem hob Urs plötzlich den Kopf und blickte zu mir herüber. »Wie gefällt’s dir hier eigentlich?«, wollte er wissen. Seine Frage klang harmlos, fast kumpelhaft, aber in seinen Augen glaubte ich, einen lauernden Ausdruck zu erkennen. Daher war ich auf der Hut.
»Och, ich bin ja erst knapp zwei Tage hier«, wich ich aus und stiftelte sorgfältig Zucchini, die später gedünstet und in Öl eingelegt werden sollten. Natürlich wieder für die unvermeidlichen Einweckgläser, die später für gutes Geld verkauft wurden. Bekamen die Oasenbewohner eigentlich gar nichts vom Erlös ab? Das würde ja bedeuten, dass hier niemand über einen Cent eigenes Geld verfügte! Für mich als Einzelkind war es eine seltsame Vorstellung, dass alle alles miteinander teilten. Vielleicht wurde ja alles Geld in einen Topf geworfen und jeder nahm sich heraus, was er für Klamotten und Schuhe brauchte?
Als ich aufsah, merkte ich, dass Urs mich immer noch beobachtete. Er schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte. Bitte, dachte ich, das kann er haben. »Hast du auch schon mal gefastet, so wie Lukas?«, erkundigte ich mich, wobei ich ein extra harmloses Gesicht zur Schau trug.
Urs starrte mich an. Offenbar hatte ich ihn kalt erwischt.
»Und wenn wir schon mal beim Thema Essen sind – wieso gibt es eigentlich immer nur diese grauenhafte Pampe zum Frühstück und zum Abendessen?«, fügte ich zuckersüß hinzu. Urs’ Miene erinnerte inzwischen an einen Spion in den Fängen des FBI , der unter der Androhung von Folter verhört wurde.
»Ich … also, ich muss neue Zutaten holen«, stotterte er und ergriff die Flucht.
Obwohl ich wusste, dass es fies war, musste ich grinsen, während ich mir die nächste Zucchini vorknöpfte. Seine Fragestunde war nach hinten losgegangen. Kurzzeitig besserte sich meine Laune, auch wenn es auf Urs’ Kosten ging.
Auf einmal stand Zeno neben mir. Hatte er sich etwa in die Küche gebeamt? »Hi«, sagte ich überrascht und strahlte ihn an. Zum ersten Mal blitzte jedoch keine Zahnlücke auf und ein Lächeln blieb mir verwehrt. Stattdessen ließ Zeno seinen Blick über das von mir geschnibbelte Gemüse und die bislang abgefüllten Gläser schweifen. Er seufzte, ehe er sich ein Lächeln abrang, das allerdings eher mitleidig ausfiel. »Na ja, ist ja erst dein zweiter Tag«, meinte er und klang dabei bemüht aufmunternd. Das Gegenteil war aber der Fall: Ich fühlte mich plötzlich
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