Moorseelen
dir alles nur ein. Das ist ein Teller und darauf sind nur Nudeln, nichts weiter«, sagte ich mir stumm und zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Auf dem Teller vor mir lagen die Spirelli. Nichts bewegte sich, nichts verwandelte sich.
»Ist dir nicht gut, Feline?«, hörte ich Deva fragen. Ich wandte den Kopf und sah, dass sie ihren Rollstuhl zu mir gedreht hatte und mich eindringlich musterte. »Doch, doch, es ist nur … Ich habe keinen richtigen Hunger«, sagte ich hastig. Devas Gesicht nahm einen besorgten Ausdruck an. »Versuch es doch wenigstens«, sagte sie, ehe sie zum Laufstall rollte und den Kleinen herausnahm. Sie setzte ihn auf ihren Schoß und fuhr zur Anrichte, wo ein Gläschen püriertes Gemüse samt einigen Nudeln wartete, was Jaron mit verzückten »Mmmh-mmh«-Lauten kommentierte.
Während Deva ihn fütterte, stopfte ich mir ein paar Gabeln Pasta in den Mund und hoffte, dass sich das Essen nicht erneut zu bewegen beginnen würde. Fast ohne zu kauen, schluckte ich mechanisch Bissen für Bissen hinunter, doch nach knapp einem Drittel der Portion konnte ich nicht mehr. Die Angst, wieder Mia vor mir zu sehen, schnürte mir die Kehle zu. Angewidert legte ich das Besteck zur Seite. Ein Glas Wasser wurde vor mich hingestellt. Ich blickte auf. Deva lächelte mich an, ehe sie wie beiläufig eine weiße ovale Kapsel daneben legte. Misstrauisch beäugte ich sie. »Was ist das?«, fragte ich und musste wohl unbewusst die Nase gerümpft haben, denn Deva klang amüsiert, als sie sagte: »Ein Aufbaupräparat«.
Weil ich trotzdem keine Anstalten machte, die Tablette zu schlucken, seufzte sie kurz. Dann brachte sie ihren Rollstuhl hinter mir zum Stehen und legte mir sanft beide Hände auf die Schultern. »Feline, glaubst du wirklich, ich würde etwas tun, was schlecht für dich ist?«, fragte sie in ihrem sanften Tonfall. Sofort bekam ich wegen meines dauernden Argwohns ein schlechtes Gewissen. Deva sah mich ernst an, während sie fortfuhr. »Zeno und ich wollen doch nur, dass du so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommst. Du hast dich wirklich toll gemacht hier in der Oase. Er hat mir erzählt, wie fleißig du in den vergangenen Tagen gearbeitet hast. Aber natürlich ist unser Leben eine Umstellung. Jeder hier musste sich erst einmal an die körperliche Arbeit und unsere fleischlose Ernährung gewöhnen. Und deine Vergangenheit hat dich auch noch nicht ganz losgelassen. Da können Körper und Geist schon mal überfordert sein und rebellieren. Genau dafür bin ich als Ärztin da. Natürlich lehnen wir hier in der Oase alle künstlichen Mittel der Pharmaindustrie ab. Den Konzernen geht es weniger um die Gesundheit der Menschen als um den eigenen Profit. Aber es gibt auch anders denkende Hersteller. Und in manchen Fällen braucht es eine Nahrungsergänzung, damit das System im Körper wieder ins Gleichgewicht kommt. Nichts anderes bewirkt dieses Präparat. Es erhält Vitamin C und D, ist also völlig harmlos!«
Obwohl sie durchweg freundlich mit mir sprach und nichts in ihrer Miene verriet, ob sie wegen meiner ständigen Zicken sauer auf mich war, fühlte ich mich schuldig. Ich strapazierte ihre Nerven wahrscheinlich ganz schön – genau wie die von Zeno. Eigentlich war es fast ein Wunder, dass sie mir nicht längst nahegelegt hatten, die Oase zu verlassen. »Sorry, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist«, murmelte ich. Ein breites Lächeln erstrahlte auf Devas Gesicht. Liebevoll strich sie mir mit den Händen, die immer noch auf meinen Schultern gelegen hatten, das Haar aus dem Gesicht. »Uns liegt sehr viel an dir, Feline. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.« Noch während sie redete, hatte ich bereits die Kapsel in den Mund gesteckt und spülte sie mit einem großen Schluck Wasser hinunter. Deva zerzauste mir noch einmal liebevoll die Haare, dann schnappte sie sich Jaron, der mit breiverschmiertem Mund auf dem Boden herumgekrabbelt war und jetzt laut lachte, als Deva ihn kitzelte. »Komm, Zwergenkönig, Zeit für einen Windelwechsel«, sagte sie und rollte mit dem Kind auf dem Schoß aus der Küche. Ehe sie durch die Tür verschwand, drehte sie sich noch einmal zu mir um: »Jaron wird in der Oase völlig frei und unbelastet aufwachsen. Ich wünschte, mehr Kinder hätten diese Chance.«
Ich blieb am Tisch sitzen und sah ihnen nach. Ein warmes Gefühl der Zuneigung für die gelähmte Frau durchflutete mich. Überhaupt liebte ich auf einmal alle Bewohner der Oase: die starke, unerschrockene
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