MoR 01 - Die Macht und die Liebe
für den Kampf der Legionen gegen die riesigen, ungeordneten Heere des Feindes. Er war deshalb in der Praxis allmählich durch die dreimal so große Kohorte verdrängt worden, aber bis zu dieser Zeit hatte niemand die Legionen auch offiziell in Kohorten statt in Manipel eingeteilt.
Die Arbeit mit einer Plebejerarmee warf allerdings auch unerwartete Probleme auf. Die vermögenden römischen Soldaten alten Stils hatten zumeist lesen, schreiben und rechnen gelernt, und Flaggen, Zahlen, Buchstaben und Symbole ohne Schwierigkeiten erkannt. In Marius’ jetziger Armee konnten die meisten weder lesen noch schreiben und nur wenig rechnen. Sulla teilte die Soldaten deshalb so ein, daß von jeweils acht Mann, die ein Zelt teilten und gemeinsam aßen, wenigstens einer diese Kenntnisse besaß. Er war dann der Vorgesetzte seiner Kameraden und erteilte ihnen Unterricht. Das Lernen ging allerdings nur langsam voran. Deshalb wurde der Abschluß der Ausbildung verschoben, bis die winterlichen Regen in Africa eine Fortsetzung des Feldzugs unmöglich machen würden und Zeit für solche Dinge bliebe.
Marius dachte sich ein einfaches, aber einprägsames Feldzeichen für seine Legionen aus und sorgte dafür, daß alle Soldaten die gebührende Ehrfurcht und Achtung vor dem neuen Zeichen empfanden. Jeder Legion wurde ein schöner silberner Adler mit ausgebreiteten Schwingen auf einer langen, mit Silber beschlagenen Stange übergeben. Der Adler sollte vom aquilifer getragen werden, dem besten Soldaten der ganzen Legion, bekleidet mit einem Löwenfell und einer silbernen Rüstung. Dieser Adler war Marius zufolge das Symbol für Rom, und jeder Soldat mußte einen Eid schwören, lieber zu sterben als zuzulassen, daß der Adler seiner Legion in die Hände des Feindes fiel.
Natürlich wußte Marius genau, was er tat. Nicht umsonst war er Soldat mit Leib und Seele und hatte ein halbes Leben im aktiven Dienst verbracht. Er kannte die Bedürfnisse des gemeinen Soldaten genau - besser als jeder Aristokrat. Seine eigene niedere Herkunft hatte ihn zu einem scharfen Beobachter gemacht, und seine überlegene Intelligenz ermöglichte ihm, aus diesen Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Seine Leistungen waren lange unterschätzt worden, und seine unbestreitbaren Fähigkeiten hatten meist nur dem Fortkommen seiner Vorgesetzten gedient. Gaius Marius hatte sehr lange warten müssen, bis er zum ersten Mal Konsul wurde - aber er hatte in dieser Zeit viel nachgedacht.
Die Reaktion von Quintus Caecilius Metellus auf den Aufruhr, den Marius in Rom verursacht hatte, überraschte sogar seinen Sohn. Metellus hatte immer als nüchterner, beherrschter Mensch gegolten. Als er aber erfuhr, daß man ihm den Oberbefehl in Africa genommen und Marius übertragen hatte, verlor er in aller Öffentlichkeit die Nerven. Er heulte und jammerte, raufte sich die Haare und schlug sich an die Brust, und das alles nicht in seinen privaten Amtsräumen, sondern mitten auf dem Marktplatz von Utika unter den faszinierten Blicken der punischen Bevölkerung. Auch nachdem der erste Kummer vorüber war und er sich schmollend in seine Residenz zurückgezogen hatte, reichte die bloße Erwähnung des Namens Marius aus, ihn erneut in Heulkrämpfe zu stürzen, zwischen denen er unverständliche Anspielungen hervorstieß - Numantia, irgendwelche Drei, gewisse Schweine...
Ein Brief des neugewählten Konsuls Lucius Cassius Longinus trug wesentlich dazu bei, daß sich seine Laune wieder besserte. Die nächsten Tage widmete er der Entlassung seiner sechs Legionen, nicht ohne zuvor die Soldaten zu verpflichten, sich gleich nach ihrer Landung in Italien in den Dienst von Lucius Cassius zu begeben. Denn Cassius hatte Metellus in dem Brief mitgeteilt, er sei entschlossen, in Gallia Transalpina die Germanen und die mit ihnen verbündeten Volsker-Tektosager zu schlagen und damit den Aufsteiger Marius in Africa auszustechen. Marius habe ja schließlich keine Truppen.
Metellus wußte nicht, daß Marius dieses Problem bereits gelöst hatte, und er sollte es erst bei seiner Ankunft in Rom erfahren. Ende März verließ er Utika. Seine sechs Legionen nahm er mit, nur Publius Rutilius Rufus blieb zu Marius’ Empfang zurück. Metellus zog zur gut hundert Meilen südöstlich gelegenen Hafenstadt Hadrumentum und überließ sich seinen trübsinnigen Gedanken, bis man ihm meldete, Marius sei in der Provinz eingetroffen, um den Oberbefehl zu übernehmen.
Als Marius in den Hafen einfuhr, stand nur
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