Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
MoR 01 - Die Macht und die Liebe

MoR 01 - Die Macht und die Liebe

Titel: MoR 01 - Die Macht und die Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
Vom Netzwerk:
wollte er wissen
    Unschuldig riß sie ihre großen, dunklen Augen auf. »Ich rezitiere den Gesang von König Odysseus.«
    »Schluß damit!« fauchte ihr Schwiegervater. »Du machst dich zum Gespött der Leute! Die Sklaven sagen, du seist verrückt geworden! Wenn du unbedingt Homer rezitieren mußt, dann dort wo man hört, daß es Homer ist! Obwohl es meinen Horizont übersteigt, warum es sein muß.«
    »Es vertreibt die Zeit.«
    »Man kann sich die Zeit besser vertreiben, Mädel. Setz dich an deinen Webstuhl oder sing deinem Baby etwas vor; oder was Frauen sonst tun. Marsch, marsch, ins Haus mit dir!«
    »Ich weiß nicht, was Frauen sonst tun, Vater.« Livia Drusa stand auf. »Was tun sie?«
    »Sie treiben die Männer zum Wahnsinn!« Caepio ging zu seinem Arbeitszimmer zurück und schlug die Tür hinter sich zu.
    Danach wurde ihr Benehmen noch exzentrischer. Sie befolgte zwar Caepios Rat und ließ sich einen Webstuhl aufstellen, aber sie begann, gleich mehrere Leichentücher zu weben, und bei der Arbeit sprach sie laut mit einem imaginären König Odysseus. Sie tat so, als sei er seit Jahren fort und als müsse sie Leichentücher weben, um den Tag hinauszuschieben, an dem sie sich einen neuen Gatten wählen mußte. Sie unterbrach ihren Monolog immer wieder und neigte lauschend den Kopf auf die Seite.
    Diesmal schickte der alte Caepio seinen Sohn vor, um zu erkunden, was los war.
    »Ich webe mein Leichentuch«, sagte sie ruhig, »und ich versuche herauszufinden, wann König Odysseus heimkehrt, um mich zu retten. Denn er wird mich retten, mußt du wissen. Eines Tages.«
    Der junge Caepio sah sie entsetzt an. »Dich retten? Wovon redest du, Livia Drusa?«
    »Ich habe nie einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt.«
    Der junge Caepio warf die Hände in die Luft und stöhnte verzweifelt auf. »Bei Juno, wenn du ausgehen willst, was hält dich auf?«
    Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Zuerst fiel ihr nichts ein, dann sagte sie: »Ich habe kein Geld.«
    »Du brauchst Geld? Ich gebe dir Geld, Livia Drusa! Wenn du dafür aufhörst, meinen Vater wahnsinnig zu machen! Geh aus, wann du willst! Kauf dir, was du willst!«
    Auf Livia Drusas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, und dann ging sie zu ihrem Mann und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke«, sagte sie, und sie meinte es so aufrichtig, daß sie ihn sogar umarmte.
    So leicht war das! Die ganzen Jahre erzwungener Isolation waren auf einmal verflogen. Livia Drusa hatte nie daran gedacht, daß sich mit dem Wechsel vom Haus des Bruders ins Haus ihres Mannes und ihres Schwiegervaters auch andere Umstände ein wenig verändert haben könnten.
     
    Lucius Appuleius Saturninus wurde zum Volkstribunen gewählt, und seine Dankbarkeit gegenüber Gaius Marius kannte keine Grenzen mehr. Jetzt konnte er sich erkenntlich zeigen! Außerdem war er, wie er bald feststellte, nicht ganz ohne Bundesgenossen. Einer der anderen Volkstribunen, ein gewisser Gaius Norbanus, war ein Klient von Marius aus Etrurien. Er verfügte über ein beträchtliches Vermögen, hatte aber im Senat keine Macht, weil er nicht aus einer Senatorenfamilie kam. Und dann war da noch Marcus Baebius, aus jenem Zweig des Geschlechts Baebius, das schon so viele Tribunen gestellt hatte und mit Recht im notorischen Ruf der Bestechlichkeit stand. Marcus Baebius konnte man notfalls kaufen.
    Leider saßen am anderen Ende der Tribunenbank drei einflußreiche konservative Gegenspieler. Am äußersten Ende saß Lucius Aurelius Cotta, Sohn des verstorbenen Konsuls Cotta, Neffe des vormaligen Prätors Marcus Cotta und Halbbruder von Aurelia, der Frau des jungen Gaius Julius Caesar. Neben Cotta saß Lucius Antistius Reginus aus einer angesehenen, wenngleich nicht herausragenden Familie. Es ging das Gerücht, er sei ein Klient des Konsulars Quintus Servilius Caepio, und deshalb haftete Caepios Makel auch ihm an. Der dritte war Titus Didius, ein tatkräftiger, ruhiger Mann, dessen Familie ursprünglich aus der Campania kam und der sich einen guten Ruf als Soldat erworben hatte.
    In der Mitte der Bank saßen einige Volkstribunen von geringerer Abstammung. Sie sahen ihre Hauptaufgabe im kommenden Jahr offensichtlich darin, zu verhindern, daß die Kontrahenten an den beiden Enden der Bank sich gegenseitig zerfleischten. Denn zwischen den Männern, die Scaurus Demagogen genannt hätte, und den Männern, die er empfohlen hätte, weil sie nie vergaßen, daß sie zuerst Senatoren und erst dann Volkstribunen waren, gab es

Weitere Kostenlose Bücher