MoR 01 - Die Macht und die Liebe
darauf, daß das ganze Heer die Brücke überquerte, und schlug das Lager auf der falschen Seite des Flusses auf, an einer Stelle, wo das Tal so eng war, daß sich das Lager über mehrere Meilen in Nord-Süd-Richtung erstreckte. Die Legionen lagen hintereinander aufgereiht, die letzte Legion ganz in der Nähe der Brücke.
»Ich bin wirklich furchtbar verwöhnt«, sagte Sulla zum primus pilus , dem ranghöchsten Zenturio der Legion nahe der Brücke, einem kräftigen, bodenständigen Samniten aus Atina mit Namen Gnaeus Petreius. Seine Legion bestand aus samnitischen Proletariern und wurde als Hilfstruppe geführt.
»Inwiefern bist du verwöhnt?« fragte Gnaeus Petreius. Sie standen auf der Brücke, die kein Geländer hatte, nur ein paar Baumstämme am Rand. Der Zenturio starrte in das reißende Wasser.
»Ich habe bisher nur unter Gaius Marius gedient«, erklärte Sulla.
»Hast du ein Glück!« sagte Gnaeus Petreius. »Ich habe immer gehofft, daß ich auch einmal unter ihm dienen dürfte.« Er knurrte verächtlich. »Aber keiner von uns wird noch die Chance dazu bekommen, Lucius Cornelius.«
Ein dritter Mann stand bei ihnen, der Kommandant der Legion, zu der auch Petreius gehörte, ein gewählter Militärtribun. Es war kein Geringerer als der junge Marcus Aemilius Scaurus, der Sohn des Senatsvorsitzenden - über den sein zäher Vater so enttäuscht war. Der junge Scaurus wandte den Blick vom Fluß ab und sah den Zenturio an.
»Was willst du damit sagen?« fragte er.
Gnaeus Petreius knurrte noch einmal. »Daß wir alle hier fallen werden, tribunus .«
»Fallen? Wir alle? Warum?«
»Gnaeus Petreius will damit sagen«, warf Sulla grimmig dazwischen, »daß wir wieder einmal von einem hochgeborenen, inkompetenten Mann in eine unmögliche militärische Lage geführt wurden.«
»Aber ihr habt unrecht!« rief der junge Scaurus eifrig. »Ich habe schon gemerkt, daß du offenbar Quintus Lutatius’ Strategie nicht begriffen hast, Lucius Cornelius, als er sie uns erklärte!«
Sulla warf dem Zenturio einen vielsagenden Blick zu. »Dann erkläre du mir doch einmal seine Strategie, tribunus militum ! Ich bin ganz Ohr.«
»Nun, da drüben stehen vierhunderttausend Germanen, und wir sind nur vierundzwanzigtausend Mann. Wir können uns also nicht auf offenem Feld zum Kampf stellen«, erklärte der junge Scaurus, ermutigt durch die aufmerksamen Blicke der beiden altgedienten Soldaten. »Die einzige Möglichkeit, sie zu besiegen, ist, daß wir sie an einen Ort locken, an dem ihre Front nicht breiter sein kann als unsere Front. Und dann bearbeiten wir ihre Front unter Einsatz unserer ganzen militärischen Überlegenheit. Wenn ihnen klar wird, daß wir nicht zurückweichen - nun, dann werden sie das tun, was Germanen normalerweise tun: Sie werden sich zurückziehen.«
»So also siehst du die Lage«, sagte Gnaeus Petreius.
»So ist die Lage!« erwiderte der junge Scaurus ungeduldig.
»Also so müssen wir die Lage sehen!« Sulla begann zu lachen.
»Ja, so müssen wir die Lage wohl sehen!« Gnaeus Petreius lachte ebenfalls.
Der junge Scaurus blickte die beiden Männer verwirrt an, das Lachen ängstigte ihn. »Und was ist so komisch daran, bitte sehr?«
Sulla wischte sich die Tränen aus den Augen. »Das Komische daran ist, daß der Plan so hoffnungslos naiv ist.« Mit einer ausladenden Bewegung wies er auf die Berghänge zu beiden Seiten. »Schau mal da hinauf! Was siehst du?«
»Berge«, sagte der junge Scaurus, der immer verwirrter wurde.
»Wir sehen da oben Fußpfade, Reitwege, Viehwege!« sagte Sulla. »Hast du die kleinen, welligen, terrassenähnlichen Einschnitte nicht bemerkt? Die Berge sehen hier aus wie ein minoisches Krausenkleid! Die Kimbern müssen nur einfach auf die Berge steigen und diese Terrassen entlangmarschieren. Auf diese Weise können sie uns in drei Tagen von beiden Seiten in den Rücken fallen. Und dann, Marcus Aemilius, sitzen wir zwischen dem Hammer und dem Amboß. Und werden zerquetscht wie ein Käfer unter dem Stiefel.«
Der junge Scaurus wurde so blaß, daß Sulla und Petreius im selben Moment ihre Arme nach ihm ausstreckten, weil sie befürchteten, er würde über den Rand der Brücke stürzen, und das hätte er in diesem reißenden Strom nicht überlebt.
»Unser Feldherr hat einen schlechten Plan entworfen«, erklärte Sulla rauh. »Wir hätten zwischen Verona und dem Gardasee auf die Kimbern warten sollen. Dort hätten wir tausend Möglichkeiten gefunden, sie in eine richtige Falle zu
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