MoR 02 - Eine Krone aus Gras
fasziniert zu; offenbar versuchten sie verzweifelt, diese für sie so fremden Gedanken zu begreifen. Eine Stadt sollte größer sein als ein Mensch? Eine Stadt sollte größer sein als die Gedanken eines Menschen?
»Aber ein Ort, Lucius Cornelius, ist nichts weiter als eine Ansammlung von Häusern!« sagte Orobazos. »Und wenn er eine Stadt ist, eine Ansammlung großer Gebäude, und wenn er ein heiliger Ort ist, eine Ansammlung von Tempeln. Wie eine Landschaft eine Ansammlung von Bäumen und Felsen und Feldern ist. Wie kann ein solcher Ort solche Gefühle, solchen Adel hervorrufen? Ich weiß, daß Rom eine große Stadt mit großen Gebäuden ist — dienst du wie die anderen Römer nur diesen Gebäuden?«
Sulla hielt seinen Elfenbeinstab in die Höhe. »Dies ist Rom, Fürst Orobazos.« Er berührte seinen weißen, muskulösen Oberarm. »Und dies ist Rom, Fürst Orobazos.« Er zog die Falten seiner Toga beiseite und wies auf das geschnitzte, geschwungene X der Stuhlbeine. »Auch dies ist Rom, Fürst Orobazos.« Er streckte seinen Arm aus und griff mit zwei Fingern nach einer Falte seiner Toga. »Und auch dies ist Rom, Fürst Orobazos.« Schweigend musterte er die Gesandten, die zu ihm aufblickten. Dann sagte er: »Ich bin Rom, Fürst Orobazos. Und jeder einzelne Mann, der sich als Römer bezeichnet. Rom ist ein Staat, der seit tausend Jahren besteht, seit der Zeit, als ein trojanischer Flüchtling namens Aeneas die Küste Latiums betrat und ein Menschengeschlecht begründete, das vor sechshundertzweiundsechzig Jahren eine Stadt namens Rom gründete. Eine Zeitlang wurde Rom tatsächlich von Königen regiert, bis die Römer zu dem Schluß kamen, kein Mensch könne mächtiger sein als die Stadt, die ihn hervorgebracht habe. Kein Römer ist größer als Rom. Rom ist der Ort, der große Männer hervorbringt. Aber was immer sie sein mögen, was immer sie tun, es geschieht zum Ruhme Roms. Und ich sage dir, Fürst Orobazos, daß Rom so lange bestehen wird, wie die Römer die Stadt höher achten als ihr eigenes Leben, höher als das Leben ihrer Kinder, höher als ihren eigenen Ruhm und ihre Leistungen.« Sulla atmete tief ein. »So lange die Römer Rom höher achten als ein Ideal, als einen einzelnen Menschen.«
»Aber der König ist die Verkörperung all dessen, was du gesagt hast, Lucius Cornelius«, widersprach Orobazos.
»Das kann ein König niemals sein«, sagte Sulla. »Ein König achtet nur sich selbst, ein König glaubt, daß er den Göttern nähersteht als alle anderen Menschen. Manche Könige halten sich sogar für Götter. Alles ist auf die Person des Königs bezogen, Fürst Orobazos. Könige benutzen ihr Land, um sich selbst zu erhöhen. Rom benutzt die Römer, um sich zu erhöhen.«
Orobazos hob seine Hände in der uralten Geste der Ergebung. »Ich verstehe dich nicht, Lucius Cornelius.«
»Dann laß uns jetzt über die Gründe unserer Zusammenkunft sprechen, Fürst Orobazos. Dies ist eine historische Stunde. Im Namen Roms unterbreite ich dir einen Vorschlag. Alles Land östlich des Euphrat ist eure, Angelegenheit, ist der Einflußbereich des Partherkönigs. Alles Gebiet westlich des Euphrat sei Roms Angelegenheit, sei der Einflußbereich der Männer, die im Namen Roms handeln.«
Orobazos hob die ergrauten Augenbrauen. »Willst du damit sagen, Lucius Cornelius, daß Rom über alles Land westlich des Euphrat herrschen will? Daß Rom beabsichtigt, die Könige von Syrien und Pontos, von Kappadokien und Kommagene und vielen anderen Ländern abzusetzen?«
»Nein, keineswegs, Fürst Orobazos. Ich meine vielmehr, daß Rom die Stabilität der Länder westlich des Euphrat sichern will. Rom will verhindern, daß einige Könige auf Kosten anderer Könige ihre Reiche vergrößern. Rom will verhindern, daß die Grenzen verschoben werden. Weißt du eigentlich, Fürst Orobazos, aus welchem Grund ich heute hier bin?«
»Nicht genau, Lucius Cornelius. Wir erhielten eine Nachricht des Königs Tigranes von Armenien, der unter unserer Herrschaft steht, daß du mit einem Heer in sein Land gekommen seist. Bisher habe ich von König Tigranes noch nicht erfahren können, weshalb dein Heer noch keine Angriffe durchgeführt hat. Du bist weit über den Euphrat nach Osten gezogen. Nun scheinst du wieder nach Westen zurückzukehren. Weshalb bist du hierher gekommen, warum hast du dein Heer nach Armenien geführt? Und warum hast du, als du dort warst, keinen Krieg geführt?«
Sulla wandte den Kopf und sah auf Tigranes hinab. Die
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