MoR 02 - Eine Krone aus Gras
der Nacht nach meiner Ankunft in Nola schlossen die Samniten die Stadttore und brachten die Stadt völlig unter ihre Kontrolle. Alle Römer und Latiner wurden gefangengenommen und in ihren Häusern festgehalten, auch meine Liktoren, Reiter und Schreiber. Mich hielten sie im Hause meiner Gastgeberin fest; der Eingang und die Hintertür wurden von samnitischen Posten bewacht. Ich war dort bis vor drei Tagen eingesperrt, dann gelang es der alten Dame, die Wachen am Hinterausgang abzulenken, während ich mich hinausschlich. Als samnitischer Händler verkleidet, entkam ich durch ein Stadttor, bevor man mich verfolgen konnte.«
Scaurus beugte sich vor. »Hast du während deiner Gefangenschaft eine Amtsperson gesprochen, Servius Sulpicius?«
»Niemanden«, antwortete Galba. »Ich sprach nur mit den Wachen am Eingang, sonst mit keinem.«
»Was haben sie gesagt?«
»Nur, daß in Samnium ein Aufstand ausgebrochen sei, Marcus Aemilius. Ich hatte keine Gelegenheit, mich selbst davon zu überzeugen. Nach meiner Flucht war ich den ganzen Tag damit beschäftigt, mich vor jedem zu verstecken, der auch nur entfernt wie ein Samnite aussah. Ich merkte erst in Capua, daß niemand etwas von einem Aufstand wußte, zumindest nicht in diesem Teil der Campania. Keiner scheint gemerkt zu haben, was in Nola vor sich ging! Die Bewohner der Stadt ließen tagsüber ein Tor offen und taten so, als gehe alles seinen gewohnten Gang. Als man in Capua erfuhr, was mir zugestoßen war, waren die Leute überrascht. Und alarmiert, wie man sich denken kann! Die Duumvirn von Capua baten mich, dafür zu sorgen, daß sie vom Senat Anweisungen erhalten.«
»Hast du in der Gefangenschaft zu essen bekommen? Was war mit der Gastgeberin? Durfte sie nach Acerrae zum Einkaufen?« fragte Scaurus.
»Ich hatte wenig zu essen. Meine Gastgeberin durfte in Nola einkaufen, aber nur begrenzte Mengen und die zu Wucherpreisen. Kein Latiner oder Römer durfte die Stadt verlassen.«
Galba stand vor einem voll besetzten Senat. Mochte Varius’ Gerichtshof auch sonst nichts zustande gebracht haben, so war es immerhin ihm zu verdanken, daß unter den Senatoren Einigkeit herrschte — und daß sie nach einer Sensation gierten, die Varius’ Kommission in den Hintergrund drängen würde.
»Darf ich etwas sagen?« fragte Gaius Marius.
»Wenn kein Amtsälterer etwas sagen will«, antwortete kühl der zweite Konsul Publius Rutilius Lupus, der im Februar die fasces trug. Er war kein Anhänger von Marius.
Da sich keiner zu Wort meldete, begann Marius:
»Wenn Nola seine römischen und latinischen Bürger einsperrt und sie hungern läßt, dann gibt es keinen Zweifel: Nola revoltiert gegen Rom. Überlegt einen Augenblick: Im Juni letzten Jahres hat der Senat zwei Prätoren losgeschickt, damit sie der italischen Frage nachgehen, wie sie unser geschätzter Konsular Quintus Lutatius nannte. Vor fast drei Monaten wurde der Prätor Quintus Servilius in Asculum Picentum ermordet, und mit ihm alle römischen Bürger. Vor fast zwei Monaten wurde der Prätor Servius Sulpicius in Nola festgenommen und eingesperrt, und mit ihm alle römischen Bürger in der Stadt.«
Marius blickte sich um und fuhr fort: »Zwei Prätoren, einer im Norden und einer im Süden. Und zwei schreckliche Zwischenfälle, einer im Norden und einer im Süden. In ganz Italien — selbst in den entlegensten Winkeln — kennt man den Rang und die Bedeutung eines römischen Prätors. Und doch, eingeschriebene Väter, hat man einen römischen Prätor ermordet und einen anderen für lange Zeit eingesperrt. Daß wir nicht wissen, was man mit dem gefangenen Servius Sulpicius schließlich vorhatte, verdanken wir nur dem glücklichen Umstand seiner Flucht. Ich glaube, auch er hätte sterben müssen. Zwei römische Prätoren, beide mit prokonsularischem Imperium! Zwei Übergriffe, offenbar ohne Furcht vor Vergeltung. Was besagt das? Nur eines, Kollegen Senatoren! Es besagt, daß Asculum Picentum und Nola zu ihren Taten ermutigt wurden, weil sie keine Angst vor Vergeltung hatten. Mit anderen Worten: Sowohl Asculum Picentum als auch Nola erwarten eine Kriegserklärung zwischen Rom und ihren jeweiligen Stämmen, bevor sie mit Vergeltung rechnen.«
Alle im Haus saßen kerzengerade in den Bänken und klebten an Marius’ Lippen. In einer Redepause ließ er den Blick durch die Reihen schweifen und suchte nach bestimmten Gesichtern: nach dem von Lucius Cornelius Sulla zum Beispiel, der leuchtende Augen bekommen hatte, und nach Quintus
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