MoR 02 - Eine Krone aus Gras
entwickelt, also muß man annehmen, daß es sich mehr um einen nervösen Tick als um ein angeborenes Leiden handelt. Er sagt, am meisten plagt es ihn heute, wenn er daran denkt oder wenn er eine offizielle Rede halten muß. Ich stelle mir immer vor, wie er eine religiöse Zeremonie leitet! Wie müßte ich lachen, wenn alle verlegen von einem Fuß auf den anderen treten, während das Ferkel über seine Zunge stolpert und immer wieder von vorne anfangen muß!
Ich schreibe dies am Vorabend meiner Abreise nach Hispania Citerior, wo mich hoffentlich ein guter Krieg erwartet. Nach den Berichten zu urteilen, sind die Keltiberer außer Rand und Band, und die Lusitanier richten allerlei Zerstörung in Hispania Ulterior an, wo mein entfernter cornelischer Vetter Dolabella einen oder zwei unbedeutende Siege erringen konnte, ohne der Rebellion Herr zu werden.
Die Militärtribunen sind gewählt worden, und auch Quintus Sertorius geht mit Titus Didius. Fast wie in den alten Zeiten. Nur unser Feldherr ist ein anderer und weniger hervorragender homo novus als Gaius Marius. Sobald es Neuigkeiten gibt, schreibe ich Dir, aber dafür erwarte ich, daß Du mir schreibst, was für ein Mann König Mithridates ist.
»Wie kam es denn, daß Lucius Cornelius bei Quintus Caecilius zu Abend aß?« fragte Julia neugierig.
»Er wollte sich wahrscheinlich einschmeicheln«, sagte Marius schroff.
»Das darfst du nicht sagen, Gaius Marius!«
»Und warum nicht, Julia? Ich mache ihm doch keinen Vorwurf. Schweinebacke liegt — lag — zur Zeit gut im Rennen, und sein Einfluß ist auf jeden Fall größer als meiner. Wie die Dinge liegen, kann der arme Lucius Cornelius sich nicht Scaurus anschließen, und ich verstehe auch, warum er nicht versucht hat, sich Catulus Caesar anzuschließen.« Seufzend schüttelte Marius den Kopf. »Aber ich sage dir, Julia, daß Lucius Cornelius irgendwann seine angeschlagene Position festigen und mit all diesen Herren das beste Einvernehmen herstellen wird.«
»Dann ist er nicht dein Freund!«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Das verstehe ich nicht! Ihr wart euch doch so nahe.«
»Ja, meine Liebe«, sagte Marius bedächtig, »aber es war nicht die Sorte Nähe, wie sie zwischen zwei Männern herrscht, die sich geistig und gefühlsmäßig nahestehen. Der alte Großvater Caesar dachte ungefähr dasselbe über ihn wie ich — wenn man in der Klemme sitzt oder wenn es viel zu tun gibt, kann man sich keinen besseren Verbündeten denken als ihn. Es ist angenehm, mit einem solchen Mann gut auszukommen. Aber ich glaube nicht, daß Lucius Cornelius die Art von Freundschaft kennt, wie sie zum Beispiel zwischen Publius Rutilius und mir besteht. Verstehst du — ich meine, daß man die Schwächen und Marotten des anderen genauso akzeptiert wie seine hervorragenden positiven Eigenschaften. Lucius Cornelius kann nicht still mit einem Freund auf einer Bank sitzen und sich nur freuen, daß er neben ihm sitzt. Das wäre gegen seine Natur.«
»Aber was für ein Mensch ist er dann, Gaius Marius? Er ist mir immer noch ein Rastel.«
Marius schüttelte den Kopf und lachte. »Keiner kennt ihn wirklich. Selbst nach all den Jahren in seiner Nähe habe auch ich keine Ahnung, wer er wirklich ist.«
»Na ja, ich glaube schon, daß du es weißt«, sagte Julia verschmitzt, »du willst nur nicht davon sprechen — jedenfalls nicht mit mir.« Sie setzte sich neben ihn. »Wenn er überhaupt zu jemandem freundschaftliche Beziehungen hat, dann zu Aurelia.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Marius trocken.
»Deshalb brauchst du nicht zu glauben, es wäre etwas zwischen den beiden — da ist nämlich nichts! Ich denke nur, wenn Lucius Cornelius sein Innerstes überhaupt einem Menschen offenbart, dann ihr.«
»Hm«, sagte Marius, womit dieses Thema für ihn erledigt war.
Vater, Mutter und Sohn mußten den Winter über in Halikarnassos bleiben, weil sie zu spät in Kleinasien eingetroffen waren, um noch die Reise über Land von der ägäischen Küste nach Pessinus anzutreten. In Athen waren sie zu lange geblieben, weil es ihnen dort so gut gefallen hatte, und von dort waren sie nach Delphi gefahren, um das Heiligtum des Apollo aufzusuchen. Die Pythia, die Priesterin des Orakels, wollte Marius allerdings nicht befragen.
Julia fragte ihn erstaunt nach dem Grund.
»Man soll die Götter nicht drängen«, sagte er. »Ich habe schon genug Prophezeiungen gehört. Wenn ich noch mehr Enthüllungen über die Zukunft verlange, werden sich die
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