MoR 02 - Eine Krone aus Gras
immerzu Gaius Marius! So denke doch einmal nach, Aurelia! Warum sollte ich Gaius Marius’ Tod wollen? Warum sollte ich den Helden des Volkes umbringen? So ein Narr bin ich auch wieder nicht. Hoffentlich habe ich ihm einen solchen Schrecken eingejagt, daß er nicht nach Italien zurückkehrt, bis ich aus Italien abgereist bin. Es geht nicht nur um mich, Aurelia. Es geht um Rom. Marius darf nicht gegen Mithridates kämpfen!« Sulla rutschte auf dem Sofa hin und her und gestikulierte wie ein Anwalt, der seiner Sache abgeneigte Richter überzeugen will. »Aurelia, du hast doch sicher bemerkt, daß Gaius Marius, seit er vor genau einem Jahr wieder ins öffentliche Leben zurückkehrte, mit Männern umgeht, die er früher nicht einmal gegrüßt hätte. Wir alle haben unsere Handlanger, mit denen wir besser nichts zu tun hätten, und wir alle müssen Männer umschmeicheln, denen wir lieber ins Gesicht spucken würden. Aber seit seinem zweiten Schlaganfall greift Gaius Marius auf Mittel und Tricks zurück, die er früher nicht einmal in Todesgefahr angerührt hätte! Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, was ich kann. Und ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich bei weitem ehrloser und gewissenloser bin als Gaius Marius, aufgrund meines bisherigen Lebens und meines Charakters. Aber er war niemals so! Daß er Männer wie Lucius Decumius benützt, um einen Kadetten loszuwerden, der seinen hochverehrten Sohn des Mordes anklagte! Daß er sich durch Männer wie Lucius Decumius Schläger aus dem Pöbel beschaffen läßt! Überlege doch einmal, Aurelia. Der zweite Schlaganfall hat seinen Verstand angegriffen.«
»Du hättest niemals in Rom einmarschieren dürfen«, sagte sie.
»Hatte ich denn eine andere Wahl, Aurelia? Hätte ich einen anderen Weg gesehen, ich wäre ihn gegangen. Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich in Capua geblieben wäre, bis ein zweiter Bürgerkrieg losgebrochen wäre — Sulla gegen Marius?«
Aurelia wurde blaß. »So weit wäre es nie gekommen!«
»Ja, es gab noch eine dritte Möglichkeit. Ich hätte mich einem verrückten Volkstribun und einem wahnsinnigen, alten Mann unterwerfen können. Ich hätte Gaius Marius erlauben können, mit mir das zu machen, was er mit Metellus Numidicus gemacht hat: nämlich mit Hilfe der Plebs einen Feldherrn stürzen. Aber als er das mit Metellus Numidicus gemacht hat, war Metellus Numidicus nicht mehr Konsul! Ich war Konsul, Aurelia! Niemand darf einem amtierenden Konsul das Kommando wegnehmen. Niemand!«
»Ja, ich verstehe, was du meinst.« Die Farbe kehrte in Aurelias Gesicht zurück, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie werden dir nie verzeihen, Lucius Cornelius. Du hast ein Heer nach Rom geführt.«
Sulla stöhnte. »Nein, bei allen Göttern, so weine doch nicht! Ich habe dich niemals weinen sehen. Nicht einmal bei der Beerdigung meines Sohnes. Wenn du um ihn nicht weinen konntest, dann kannst du doch nicht um Rom weinen!«
Aurelia saß mit gesenktem Kopf da. Die Tränen liefen ihr nicht die Wangen hinunter, sondern fielen ihr in den Schoß, und ihre nassen, schwarzen Wimpern glitzerten im Sonnenlicht. »Wenn mir etwas sehr nahegeht, kann ich nicht weinen«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab.
»Das glaube ich nicht.« Sullas Kehle war rauh und schmerzte.
Aurelia blickte auf. Jetzt liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter. »Ich weine nicht um Rom«, sagte sie mit belegter Stimme und wischte sich wieder über die Nase. »Ich weine um dich.«
Sulla erhob sich vom Sofa, reichte ihr sein Taschentuch, stellte sich hinter ihren Stuhl und legte ihr die Hand auf die Schulter. Es war besser, wenn sie sein Gesicht nicht sah.
»Dafür werde ich dich immer lieben«, sagte er und wischte mit der Hand ein paar Tränen von ihren Wimpern. Dann leckte er seine Hand ab. »Das bringt Glück«, sagte er. »Ich hatte als Konsul die härteste Zeit, die ein Konsul je hatte. Genau wie ich das härteste Leben hatte, das je ein Mann hatte. Aber ich gebe nicht auf, und es ist mir gleichgültig, wie ich siege. Es sieht nicht gut aus für mich. Aber das Rennen ist erst vorbei, wenn ich tot bin.« Er drückte ihre Schulter mit der Hand. »Deine Tränen bewahre ich tief in mir. Ich habe einmal ein smaragdenes Monokel in einen Abwasserkanal fallen lassen, weil es keinen Wert für mich hatte. Aber deine Tränen werde ich niemals verlieren.«
Er ließ sie los und verließ das Haus. Er war stolz und fühlte sich bereichert und geehrt. All die Tränen, die
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