MoR 02 - Eine Krone aus Gras
die Schatten waren schwärzer als die tiefste Höhle. Der Palast stand auf einer felsigen Insel, die mit dem Festland durch eine schmale Landbrücke verbunden war; über diese Landbrücke erstreckte sich die Stadt, die nun tief und traumlos schlief. Finster ragte die Silhouette der Mauern, die die menschlichen Behausungen umgürteten, mit ihren Stummelzähnen vor dem Glanz einer niedrigen Wolkenbank auf.
Auf halbem Weg zwischen zwei Wachtürmen trafen sich Gordios und der König. Sie setzten sich unter den Rand der Brüstung und flüsterten so leise miteinander, daß kein Vogel aus seinem leichten Schlaf geweckt wurde.
»Laodike war überzeugt, daß du dieses Mal nicht zurückkommen würdest, großer König«, sagte Gordios.
»So?«, sagte der König hart.
»Sie hat sich vor drei Monaten einen Liebhaber genommen.«
»Wen?«
»Deinen Vetter Pharnakes, großer König.«
Aha! Die kluge Laodike! Nicht irgendeinen Liebhaber, sondern einen der wenigen Männer der Familie, die sich Hoffnungen auf den pontischen Thron machen konnten, ohne fürchten zu müssen, irgendwann von einem der vielen minderjährigen Söhne des Königs abgesetzt zu werden. Pharnakes war der Sohn des Bruders und der Schwester von Mithridates V. Sein Blut war rein, er war ohne Makel.
»Sie glaubt, ich würde es nicht herausfinden«, sagte Mithridates.
»Sie glaubt, die wenigen, die davon wissen, hätten zuviel Angst, um davon zu reden«, sagte Gordios.
«Warum redest dann du?«
Gordios lächelte. Seine Zähne glänzten im Mondlicht. »Mein König, dich kann niemand bezwingen! Das weiß ich seit damals, als ich dich zum ersten Mal sah.«
»Du wirst belohnt werden, Gordios, das verspreche ich dir.« Der König lehnte sich an die Mauer und dachte nach. Schließlich sagte er: »Sie wird bald versuchen, mich zu töten.«
»Das glaube ich auch, großer König.«
»Wie viele treue Gefolgsmänner habe ich in Sinope?«
»Mehr als sie, denke ich. Sie ist eine Frau, mein König, und deshalb grausamer und verräterischer, als ein Mann je sein könnte. Wer sollte ihr trauen? Ihre Anhänger folgen ihr, weil sie sich Vorteile davon versprechen, aber um in den Genuß dieser Vorteile zu kommen, müssen sie sich auf Pharnakes verlassen. Ich glaube, sie vertrauen auch darauf, daß Pharnakes Laodike umbringt, sobald er fest auf dem Thron sitzt. Die meisten Höflinge sind den Schmeicheleien Laodikes und Pharnakes’ allerdings nicht erlegen.«
»Gut! Ich überlasse es dir, Gordios, meine loyalen Anhänger zu verständigen. Sag ihnen, sie sollen sich jederzeit bereithalten, nachts und tagsüber.«
»Was hast du vor?«
»Soll sie versuchen, mich zu töten, die Hexe! Ich kenne sie. Sie ist meine Schwester. Sie wird es nicht mit einem Messer oder mit Pfeil und Bogen versuchen, sondern mit Gift. Etwas wirklich Gräßliches, damit ich leiden muß.«
»Großer König, laß mich sie und Pharnakes sofort festnehmen, ich bitte dich!« flüsterte Gordios erregt. »Gift ist heimtückisch! Was wäre, wenn es ihr trotz aller Vorkehrungen gelänge, dir Schierling einzuflößen oder eine Natter ins Bett zu legen? Laß mich sie gleich restnehmen! Das wäre das einfachste.«
Aber der König schüttelte den Kopf. »Ich brauche einen Beweis, Gordios. Soll sie versuchen, mich zu vergiften. Soll sie nach ihrem Gutdünken eine giftige Pflanze, einen Pilz oder ein Reptil auswählen und es mir verabreichen.«
»Mein König, mein König!« stammelte Gordios entsetzt.
»Kein Grund zur Sorge, Gordios«, sagte Mithridates mit unerschütterter Ruhe und ohne eine Spur von Angst in seiner Stimme. »Kaum ein Mensch und nicht einmal Laodike weiß, daß ich mich in den sieben Jahren, in denen ich mich vor der Rache meiner Mutter versteckte, gegen jedes den Menschen bekannte Gift abgehärtet habe. Einige Gifte habe ich sogar selbst entdeckt, und niemand kennt sie außer mir. Ich kann mit Recht behaupten, daß kein Mensch auf der ganzen Welt sich mit Giften so gut auskennt wie ich. Glaubst du, all diese Narben, die ich trage, stammen von Waffen? Nein! Ich habe mich selbst entstellt, um zu verhindern, daß einer meiner Verwandten mich auf die leichteste und am schwierigsten nachweisbare Art umbringt, nämlich mit Gift.«
»In so jungem Alter!« sagte Gordios fassungslos.
»Damit ich am Leben bleibe und alt werde! Niemand wird mir meinen Thron entreißen.«
»Aber wie hast du dich gegen die Gifte abgehärtet, großer König?«
»Nimm zum Beispiel die ägyptische Natter«, sagte der
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