MoR 02 - Eine Krone aus Gras
kalt hier droben, und der Sommer ist kurz. Also graben die Leute in dieser Gegend ihre Behausungen in die Felsentürme. Dort ist es im Sommer kühl und im Winter warm. Warum sollten sie Häuser bauen, wenn die Große Göttin das schon für sie besorgt hat?«
»Wie lange leben schon Menschen in diesen Felsen?« fragte Marius fasziniert.
Der Führer wußte es nicht. »Seit es Menschen gibt«, sagte er ausweichend. »Mindestens so lange. In Kilikien heißt es, die ersten Menschen stammten aus Kappadokien und hätten von Anfang an so gelebt.«
Sie ritten immer an den Schluchten mit den Lehmtürmen vorbei, als Marius den Berg sah. Der Berg stand fast allein, und es war der höchste Berg, den er je gesehen hatte, höher als der Olymp in Griechenland, sogar höher als die Bergmassive, die das italische Gallien säumten. Er bestand aus einem Hauptkegel, der von mehreren kleineren Kegeln flankiert war, und er war vollständig von Schnee bedeckt und hob sich leuchtend vor dem wolkenlosen Himmel ab. Marius wußte natürlich, um welchen Berg es sich handelte. Schon die Griechen hatten ihn beschrieben, die Römer nannten ihn Argaeus Mons, und nur wenige Menschen aus dem Westen hatte ihn bisher zu Gesicht bekommen. Und an seinem Fuß mußte Eusebeia Mazaka liegen, die einzige Stadt Kappadokiens und die Residenz des Königs.
Da Marius von Kilikien kam, näherte er sich dem Berg leider von der falschen Seite. Mazaka lag auf der Nordseite des Berges, nicht weit vom Halys entfernt, dem größten Fluß Inneranatoliens, der die Stadt mit dem Rest der Welt verband.
So bekam Marius erst am Nachmittag die vielen Häuser zu Gesicht, die sich am Fuß des Argaeus Mons zusammendrängten.
Er wollte schon einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, als er plötzlich merkte, daß er über ein Schlachtfeld ritt. Was für ein Gefühl! Er ritt über eine Stelle, wo noch vor wenigen Tagen Tausende von Männern gekämpft und ihr Leben gelassen hatten, und doch war er an dieser Schlacht weder beteiligt gewesen, noch wußte er irgend etwas über sie. Zum ersten Mal in seinem Leben befand sich Gaius Marius, der Bezwinger Numidiens und der Germanen, als unbeteiligter Besucher auf einem Schlachtfeld.
Neugierig,sah er sich um, ohne jedoch das Tempo zu verlangsamen. Man hatte nichts unternommen, das Schlachtfeld aufzuräumen. Überall lagen aufgedunsene und verwesende Leichen herum, denen man Rüstung und Kleidung weggenommen hatte. Daß die Fliegen nicht in Scharen über sie herfielen, lag an der eisigen Luft, die auch den Gestank des brandigen Fleisches in gerade noch erträglichen Grenzen hielt. Marius’ Führer war in Tränen ausgebrochen, seine zwei Sklaven hatten sich übergeben, aber Marius selbst ritt weiter, als gäbe es nichts Ungewöhnliches zu sehen. Seine Augen suchten nach etwas viel Bedrohlicherem: nach dem Lager der siegreichen Armee. Und da war es, in einer Entfernung von zwei Meilen im Nordosten, eine riesige Ansammlung brauner Lederzelte unter einer dünnen, blauen Rauchglocke, die von den vielen Feuern stammte. Mithridates. Er mußte es sein. Und Gaius Marius beging nicht den Fehler, anzunehmen, die toten Soldaten hätten dem Heer des Mithridates angehört. Nein, Mithridates befehligte das siegreiche Heer, und das Feld, über das Marius ritt, war mit toten Kappadokiern bedeckt. Arme Felsbewohner und Nomaden! Wahrscheinlich waren unter den Leichen auch viele syrische und griechische Söldner, folgerte Marius weiter. Wo war der kleine König? Überflüssige Frage. Er war nicht nach Tarsos gekommen und hatte keinen der Kurierbriefe beantwortet, weil er tot war. Die Kuriere waren zweifellos auch tot.
Ein anderer Mann hätte vielleicht sein Pferd gewendet und wäre davongeritten in der Hoffnung, seine Ankunft sei nicht entdeckt worden. Nicht so Gaius Marius. Endlich hatte er König Mithridates Eupator aufgespürt, wenn auch nicht in seinem eigenen Land.
Und Marius trat sogar seinem müden Reittier in die Seiten, so sehr drängte es ihn, König Mithridates zu treffen.
Er staunte nicht schlecht, als er merkte, daß er nicht beobachtet wurde und daß seine Ankunft überhaupt nicht bemerkt wurde. Nicht einmal, als er durch das größte Tor in die Stadt hineinritt, interessierte sich jemand für ihn. Wie sicher mußte sich der König von Pontos fühlen! Marius brachte sein schwitzendes Reittier zum Stehen und ließ den Blick über die aufsteigenden Häuserreihen schweifen. Er suchte nach einer Art Akropolis oder Zitadelle und entdeckte
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