MoR 02 - Eine Krone aus Gras
Wahrscheinlich war seine finanzielle Situation inzwischen so prekär geworden, daß er etwas unternehmen mußte, obwohl Livia Drusa sich in den vergangenen Jahren schon des öfteren gefragt hatte, ob er wirklich so arm war, wie er tat. Wie ihr Bruder es mit ihnen aushielt, war ihr schleierhaft. Nicht nur, daß er sein Haus nicht mehr für sich hatte! Viel schlimmer noch — er hatte sogar seine wertvolle Gemäldesammlung von den Wänden nehmen müssen. Ihr Vater wäre entsetzt gewesen, denn er hatte das große Gebäude eigens zu dem Zweck erbaut, seine Kunstwerke in angemessener Umgebung zur Schau stellen zu können. Ach Marcus Livius, warum hast du mich gezwungen, diesen Menschen zu heiraten?
Acht Jahre Ehe und zwei Kinder hatten Livia Drusa nicht mit ihrem Schicksal versöhnen können. Die ersten Jahre waren die schlimmsten gewesen, und sie war immer mehr in Verzweiflung geraten. Nachdem sie jedoch den Tiefpunkt überwunden hatte, lernte sie, mit ihrem Unglück umzugehen. Außerdem hatte sie nie vergessen, was ihr Bruder gesagt hatte, als sie endlich eingewilligt hatte, Caepio zu heiraten:
»Ich erwarte von dir, daß du dich Quintus Servilius gegenüber verhältst wie eine junge Frau, die sich auf die Ehe freut. Du wirst ihm zeigen, daß du dich freust und ihm stets mit Ehrerbietung, Respekt, Interesse und Anteilnahme begegnen. Niemals — nicht einmal in der Abgeschiedenheit eures Schlafgemachs — wirst du Quintus Servilius den geringsten Hinweis darauf geben, daß er nicht der Ehemann ist, den du dir gewünscht hast.«
Drusus hatte sie zu dem Schrein im Atrium geführt, wo die Familiengötter verehrt wurden — Vesta, die Göttin des Herdfeuers, die Di Penates, die Schutzgötter der Speisekammer, und der Lar Familiaris —, und ließ sie schwören, daß sie tun würde, was er von ihr verlangte. Inzwischen hatte sie den Haß auf ihren Bruder längst überwunden. Sie war reifer geworden und hatte eine ihr bisher unbekannte Seite im Wesen ihres Bruders entdeckt. Beides hatte ihr über ihren Haß hinweggeholfen.
Der Drusus ihrer Kindheit und Jugend war ernst und distanziert gewesen und hatte sich nicht für sie interessiert. Wie hatte sie sich vor ihm gefürchtet! Erst nach dem Sturz und der Verbannung ihres Schwiegervaters lernte sie Drusus’ wahres Ich kennen. Oder aber, überlegte sie kühl, denn sie hatte den klaren Verstand ihres Bruders Livius Drusus, war sein Wesenswandel auf etwas ganz anderes zurückzuführen. Vielleicht hatten die Schlacht von Arausio und die Liebe zu seiner Frau ihn verändert. Drusus war ganz sicher sanfter und umgänglicher geworden, obwohl er mit ihr nie über ihre Heirat mit Caepio und den schrecklichen Schwur sprach, den er ihr abverlangt hatte. Vor allem bewunderte sie seine unverbrüchliche Treue zu ihr, seiner Schwester, und Caepio, seinem Schwager. Weder in Worten noch durch Gesten hatte er sich je anmerken lassen, daß ihm ihre Anwesenheit in seinem Haus zur Last wurde. Deshalb war ihr auch vor Entsetzen die Luft weggeblieben, als er heute abend einmal tatsächlich ausfallend zu Caepio geworden war, nachdem dieser sich erlaubt hatte, über Quintus Poppaedius Silo zu schimpfen.
Wie gewandt Caepio heute geredet hatte! Er war offensichtlich so angetan von seinem Plan, daß er zusammenhängend und voller Begeisterung darüber berichten konnte. Die Vorbereitungen schien er professionell angegangen und bereits weit vorangetrieben zu haben. Vielleicht hatte Silo ja recht, und Caepio war der geborene Geschäftsmann und Ritter. Was er vorhatte, klang interessant und erfolgversprechend. Wie schön es wäre, wenn sie ein eigenes Haus hätten. Livia Drusa wünschte sich nichts sehnlicher als ein eigenes Haus.
Gelächter drang die Treppe herauf, die von der Loggia hinunter in den überfüllten Wohnbereich der Sklaven führte. Livia Drusa sprang von der Marmorbank auf, auf der sie gesessen hatte, und drückte sich zitternd vor Aufregung in eine Ecke, um nicht gesehen zu werden, falls gleich ein paar Sklaven über die Loggia zur Tür eilten, die ins Atrium führte. Und wirklich kamen wenig später einige Männer kichernd die Treppe herauf. Sie unterhielten sich in einem griechischen Dialekt und so schnell, daß Livia Drusa nicht verstand, worüber sie lachten. Sie waren so glücklich! Warum? Was hatten sie, das ihr fehlte? Die Antwort darauf war einfach: die Chance, frei zu werden, das römische Bürgerrecht zu erwerben und ihr eigenes Leben zu leben. Die Sklaven wurden bezahlt, Livia
Weitere Kostenlose Bücher