Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
Langsam ging sie zum Ende der Friedhofsmauer, wo in einer Nische ein Lichterstein mit einem Heiligenbildchen und einem kleinen, eisernen Kruzifix lag. Sanft strich Sophie mit der Hand über das Kruzifix und gedachte des Mannes, den sie geliebt hatte – zumindest in der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten.
Der Wind wurde stärker, zerrte an ihrem Umhang. Sie achtete nicht darauf. Worte formten sich und verschwammen wieder, hüllten sie ein wie der Nebel das Dorf, damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten …
Sein Griff um ihren Arm, fest und sanft zugleich.
Ich versprech, dass ich immer für dich da sein werd.
Der Kuss.
Dann hast mich ab jetzt am Hals, du bayerischer Depp. Hier hält mich nichts mehr.
Seine freudestrahlenden Augen.
Du weißt ja nicht, wie glücklich du mich damit machst.
Die letzte Umarmung.
Ich muss wieder zurück zum Hof, Gottfried. Wir sehen uns morgen …
Aber es hatte kein Morgen gegeben. Es hatte keine gemeinsame Zukunft gegeben. Nur den Tod hatte es gegeben, Tod und Vernichtung für ihn und seine Kameraden und für die Männer des Dorfes, oben in den Wäldern .
Wie sehr hatte sie die Ausgestoßenen für das gehasst, was sie Gottfried, was sie dem Dorf angetan hatten. Für das, was sie ihr angetan hatten.
Und wie sehr hatte sie gehasst, dass sie sie hatten weiterleben lassen – als eine von ihnen . Es war nur eine kleine Wunde gewesen, die sie davongetragen hatte, als man sie aus ihrem Versteck zerrte, aber diese kleine Wunde hatte gereicht, um ihr Leben, wie sie es kannte, zu beenden.
Doch ihr größter Hass galt dem, der für all das verantwortlich gewesen war, der die Vernichtung über das Dorf gebracht hatte.
Seinen Leichnam hatten sie weggebracht, an einen geheimen Ort, über den niemand sprach. Als Sophie versucht hatte, mehr darüber zu erfahren, hatte sie nur eisiges Schweigen geerntet. Sogar Anna hatte die Lippen aufeinander gepresst und den Kopf geschüttelt.
Er.
Jakob Karrer.
Beim Gedanken an ihn durchströmten Sophie Wogen des Hasses, ließen die schwarzen Adern auf ihrem Körper pulsieren, bis sie –
„Sophie?“
Sie schrak auf. Anna stand vor ihr und blickte sie aus ihren großen Augen an. Ihre langen dunklen Haare wehten im Wind.
„Anna? Was macht du hier, wo – wo ist Magdalena?“
„Sie ist schon drinnen.“ Das kleine Mädchen betrachtete sie aufmerksam. „Was ist mit dir, bist du traurig?“
„Nein.“ Sie fröstelte, spürte erst jetzt den kalten Wind und zog den Umhang fester um ihren Körper. „Nein, ich hab nur –“
Anna streckte ihr die Hand hin. „Komm. Es fängt gleich an.“ Sophie ergriff die Hand des kleinen Mädchens, gemeinsam betraten sie die Kirche.
Wie immer saßen Frauen und Kinder links und Männer rechts. Es gab keinen Grund, im Hause Gottes neue Gebote einzuführen, egal, wie schwer der Herr die seinen prüfte. Sophie setzte sich mit Anna zu Magdalena, Annas Mutter, die sie mit einem Lächeln begrüßte – anders als die Frauen daneben, die Sophie nicht einmal zur Kenntnis nahmen.
Magdalena hatte sich noch nie darum gekümmert, was die anderen dachten. Sie hatte auch keine Schwierigkeiten damit gehabt, die Aufnahme Sophies in ihre Familie zu rechtfertigen, da sie ihres Mutes wegen allgemein respektiert wurde. Immerhin war es Magdalena gewesen, die damals, als die Männer des Dorfes mit den Soldaten nachts in die Katakomben eingedrungen waren, das Schwert ergriffen hatte und Johann List entgegengetreten war. Unerschrocken hatte sie sich vor die Frauen und Kinder gestellt, als Johann, blutüberströmt und bar jeder Sinne, mehr Dämon als Mensch, in den Raum gestürmt war – eine Geschichte, die seitdem immer und immer wieder erzählt wurde.
Sophie war es in der ersten Zeit ihrer Krankheit sehr schlecht gegangen, aber Magdalena hatte für sie gesorgt, erst in den Katakomben, dann im Dorf, nachdem Heinrich und die anderen einige der Häuser wieder soweit hergerichtet hatten, dass man darin leben konnte.
Leben. Welches Leben?
Heinrich, der in der vordersten Bank saß, drehte sich um und gab einem der Männer, die beim Eingang standen, ein Zeichen. Der Mann nickte und schloss die Tür.
Sophie stellte sich vor, was geschehen würde, wenn jetzt ein Fremder hereinkäme, um Zuflucht im Haus Gottes zu finden. Was würde er sehen? Hohe Fenster, durch die das schwache Abendlicht fiel und sich mit dem Dunst des Weihrauchs vermischte. Gestalten in schäbigen Kutten und abgetragenen Kleidern. Totenblasse
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