Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
Gesichter und schartige Münder, die gelbliche, spitze Zähne verbargen. Schwarze Adern, die sich schlangengleich über die Gesichter wandten und sich im dämmrigen Licht zu bewegen schienen …
Würde er Gott um Hilfe anrufen oder schreiend davonlaufen?
Sie selbst hätte Letzteres fast getan, als sie zum ersten Mal wieder in die Kirche gegangen war. Sie hatte sich gefühlt, als würden Ungeheuer das Haus Gottes bevölkern. Aber sie war geblieben, denn sie war eine von ihnen, auf ewig verdammt, hierzubleiben in diesem –
Grab .
Ein kaltes Lächeln erschien auf Sophies Gesicht.
Egal, wie viele Häuser ihr flickt, egal, wie sehr ihr euch einredet, es ginge euch besser als oben in den Wäldern – dieses Dorf ist ein Grab, ob ihr euch nun am Tag vor der Sonne versteckt oder wie Geister durch die Nacht schleicht.
Heinrich trat vor, stellte sich zwischen den einfachen Altar und die Marienstatue und blickte sie alle ernst an.
Es ist ein Grab, und wir sind die Toten darin.
Heinrich gab sich ernst und streng, wie immer, seit er nach jener Nacht die Führung der Ausgestoßenen übernommen hatte. Es schien, als wolle er mit dieser Strenge sein junges Alter ausgleichen und jedem beweisen, dass er für die Rolle geeignet war.
„Bevor Melchior die Gebete sprechen wird, habe ich euch etwas mitzuteilen.“
Sie hatten keinen Pfarrer und beteten gemeinsam aus dem Katechismus. Der alte, bibelfeste Melchior hatte die Rolle des Vorbeters mit grimmiger Inbrunst übernommen.
Heinrich seufzte. „Wir kommen mit der Aussaat nicht nach. Die Zeit ist knapp und die Stürme der letzten Wochen haben unsere Arbeit schwer behindert. Die Nächte werden nicht mehr reichen, wir müssen auch untertags sähen.“
Er blickte Sophie an. Sie gehörte zu den wenigen, die sich, wenn auch nur für kurze Zeit und unter Schmerzen, im Tageslicht bewegen konnten, sofern sich die Sonne hinter Wolken verbarg.
Sophie nickte. „Ich werde auf die oberen Felder gehen, sobald das Wetter es zulässt.“
„Jeremias und Notburga werden dir helfen.“ Die Angesprochenen, beide fast noch Kinder, nickten ebenfalls.
„Ebenso müsst ihr euch mehr um das Vieh kümmern, wenn die Aussaat beendet ist. Uns wird das nicht mehr möglich sein.“
Frühmorgens und abends mussten die wenigen Kühe, die ihnen geblieben waren, gepflegt und gemolken werden, was in den dunklen Wintermonaten keine Schwierigkeiten bereitet hatte. Aber der Sommer nahte und die Tage wurden länger. Damit schränkte sich die Zahl derer ein, die die Tiere versorgen konnten.
„Ich werde tun, was nötig ist.“ Sophies Stimme war ohne jedes Gefühl.
„Ich danke dir.“ Er zögerte, dann ließ er seinen Blick über die Versammelten schweifen. „Ihr alle wisst, dass die letzten Arbeiten an den Häusern abgeschlossen sind. Jeder hat nun eine Unterkunft.“
Sie blickten ihn abwartend an.
„Das heißt“, seine Stimme wurde lauter, „dass ab diesem Tag niemand mehr in die oberen Wälder zu gehen hat. Die Katakomben sind zerstört, nichts soll uns mehr an die Tage des Leids erinnern.“
Alle murmelten zustimmend.
„Wir werden hierbleiben und leben – bis der Herr uns zur Exsolutio führt!“
Sophie spürte einen Stich – für einen Augenblick war Heinrich in die alte Sprache der Ausgestoßenen zurückgefallen, in jenes Gemisch aus Muttersprache und Kirchenlatein, das sich in der Abgeschiedenheit der Wälder und der Katakomben gebildet hatte. In den schlimmsten Zeiten war diese Sprache oft der einzige Trost für die Kranken gewesen: Die Sprache Gottes, in der Teile der Messe verlesen wurden, war auch die ihre. So war Er immer zugegen.
Doch seit sie das Dorf bewohnten, hatten sie die Sprache abgestreift, schnell und mühelos, als wollten sie vergessen, was hinter ihnen lag.
Wenn Sophie die alte Sprache hörte, so wie jetzt aus Heinrichs Mund, war sie mit einem Schlag wieder in jener Nacht. Sie roch den beißenden Rauch, hörte das Prasseln der Flammen, die Schreie der Dorfbewohner und dazwischen, wie das Zischen von Schlangen, die Wortfetzen, die Sprache von ihnen …
Melchior trat neben Heinrich, alle knieten sich hin.
„Wir rufen dich an, oh Herr …“
Die Stimme des Alten dröhnte durch die Kirche und riss Sophie aus ihrer Erinnerung. Sie sah nach vorne, sah, dass Heinrich sie mit seinen dunklen Augen anstarrte, als ob er in ihre Seele schauen wollte.
Schnell wandte sie ihren Blick ab und betete mit den anderen. Ihre Stimmen erfüllten die Kirche, während draußen die Sonne
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