Morbus Dei: Im Zeichen des Aries: Roman (German Edition)
herunterblickten, wie sie es seit Jahrhunderten getan hatten. Schnee, der auch im Sommer nicht verging und dafür sorgte, dass man den drohenden Winter niemals vergaß.
Vor ihr lag das Dorf, oder das, was von ihm übrig war. Nur wenige Häuser waren bewohnbar, der Großteil war in jener schrecklichen Nacht niedergebrannt. Die geschwärzten Ruinen zeichneten sich unheilvoll vor den weißen Berggipfeln ab.
Nun war ein Knarren zu hören, Türen wurden aufgestoßen, und aus den bewohnten Häusern strömten Gestalten, in Kutten und Umhänge gehüllt. In kleinen Gruppen gingen sie auf den Rand des Dorfes zu. Ihre lang gezogenen Schatten schienen in der Dämmerung zu tanzen und warfen seltsame Muster auf den schlammigen Boden und die Ruinen.
Eine der Gestalten war Heinrich, er winkte Sophie zu, aber sie reagierte nicht. Er zögerte kurz, dann ging er weiter. Immer mehr Gestalten kamen aus den Häusern.
Sie .
Sophie fröstelte, zog den Umhang fester über ihr Gesicht und die schwarzen Adern, die es bedeckten.
Wir.
Sie schloss die Tür und folgte den anderen.
Wie immer ging Sophie allein, eine unsichtbare Mauer stand zwischen ihr und den schweigenden Gestalten. Obwohl sie zu ihnen gehörte, war sie doch im Dorf geboren und würde diesen Makel immer mit sich tragen.
Außer ihr hatten nur drei Menschen den Angriff der Ausgestoßenen auf das Dorf überlebt und waren geflohen.
Ausgestoßene. Sophie benutzte diesen Ausdruck manchmal noch, wenn auch nur in Gedanken, denn seit den Ereignissen im Winter durfte er nicht mehr in den Mund genommen werden.
Als die kleine Anna, die noch keine zehn Lenze alt war, ihr damals beschrieben hatte, wie die drei ausgesehen hatten, war ein Lächeln über Sophies Gesicht gehuscht – Johann, Elisabeth und der Großvater hatten es also geschafft. Anna erzählte, dass Heinrich verboten hatte, die drei zurückzuholen, so wie er verboten hatte, Sophie zu töten, als man sie im Stall bei den Kätzchen entdeckte. „Es ist genug“, hatte er gesagt.
Und auch jetzt musste Sophie beim Gedanken an Anna lächeln. Sie war so still, so ernst, und doch von einer Zuversicht und Kraft, die selbst die Jahre in den feuchten Katakomben oben in den Wäldern nicht hatten brechen können. Es war Anna gewesen, die Johann in jener Nacht den Fluchtweg aus den Katakomben gezeigt hatte. Es war Anna gewesen, die ihre Mutter Magdalena davon überzeugt hatte, Sophie bei ihnen aufzunehmen, erst in den Katakomben und später, als die ersten Häuser erneuert waren, hier im Dorf, und wenn sie nicht –
Ein lauter Knall riss Sophie aus ihren Gedanken. Neben ihr war eine Tür aufgestoßen worden, Gestalten kamen aus dem wuchtigen, wie geduckt daliegenden Haus, dessen linke Seite teilweise verbrannt war. Die neuen Holzbohlen über den verbrannten Stellen wirkten wie ein Verband über einer schwärenden Wunde – sie bedeckten, aber man wusste genau, was darunter lag.
Immer noch hing der Ast mit der Fratze über der Tür, grob geschnitzt, der verzerrte Mund blutrot und grinsend. Als Kind hatte Sophie jedes Mal Angst gehabt, wenn sie nach der Messe hierhergekommen waren, zu Alois Buchmüllers Gasthaus …
Buchmüller.
Sophie verharrte unwillkürlich. Sah sie vor sich. Riegler. Albin. Und all die anderen.
Sie presste die Lippen zusammen und ging weiter.
Sophie und die anderen kamen zu ihrem Ziel, zum einzigen Gebäude, das von der Rache der Ausgestoßenen verschont geblieben war: der Kirche. Steinern und ungerührt stand sie da, wie ein Bollwerk gegen die schwarzen Wälder, die sich die Berghänge hinaufzogen.
Sophie betrat den Friedhof, der die Kirche umgab. Wie immer leuchteten Kerzen vor den zahlreichen Grabsteinen und in den Lichtersteinen. Nahe der verwitterten Friedhofsmauer waren viele neue Gräber angelegt worden. Man hatte den getöteten Dorfbewohnern zumindest die Ehre erwiesen, auf geweihtem Boden zu ruhen.
Sophie kniete sich vor die schmucklosen Gräber hin. Keine Namen zierten die Kruzifixe, aber Sophie kannte jeden einzelnen und betete für sie. Lautlos bewegten sich ihre Lippen.
Ein schwacher Wind wehte von den Bergen herab, ließ die Kerzen flackern und die namenlosen Gräber verschwimmen. Oder waren es Sophies Augen, die sich mit Tränen füllten?
Dabei lagen hier nur Frauen, Kinder und Greise. Die waffenfähigen Männer des Dorfes waren oben in den Wäldern geblieben, zusammen mit den bayerischen Soldaten; sie waren am Ort ihrer Vernichtung begraben worden.
Sophie bekreuzigte sich und stand auf.
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