Mord am Millionenhügel
mich erschlug war die Tatsache, daß in dem Bundesamtsausweis mein Foto prangte. Es war mir absolut rätselhaft, woher der Dicke das Bild hatte. Es hatte keinen Rand und zeigte mich im Halbprofil von links; das ist der noch erträglichste Anblick dieser Vista. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, daß ich mindestens eine ganze Weile älter geworden war, seit jemand Zelluloid vergeudet hatte, mich darauf zu bannen.
Schließlich kam ich auf den simplen Ursprung des Bildes. Die Augen verrieten es mir: Sie gehörten einem, der knülle war wie eine Beutelratte. Ich schloß daraus, daß Baltasar mit feiner Schere meinen Schädel aus einem größeren Foto herausgeschnitten hatte, das vor einiger Zeit vermutlich bei einem Gelage aufgenommen worden war.
Zuerst war ich gerührt, denn Baltasars Zuneigung zu mir mußte schlimmere Dimensionen haben, als ich je hätte erraten können – wie wäre es sonst zu erklären, daß er ein Bild von mir gehortet hatte? Doch war es anders zu erklären, und ich fand die Erklärung sehr bald. Vermutlich hatte ich bei der betreffenden Fete in der Nähe einer weiland Gespielin des Matzbach gesessen und so zufällig Eingang in die Gefilde seiner Nostalgie gefunden.
Und dann die Geschichte mit der Dame. Sie hieß, teilte mir sein Schimpfschrieb mit, Ariane Binder, wohnte in Plittersdorf und hatte Telefon, und an sie sollte ich mich wenden, wenn ich nicht weiter wüßte. Das hieß, daß sie etwas wußte, vermutlich auch, daß Baltasar sie in seine mageren Erkenntnisse und seine opulenten Annahmen eingeweiht hatte. Da ich mich nicht dazu aufschwingen mag, Baltasar des sexuellen Opportunismus zu zeihen, kam ich zu dem Schluß, daß es sich um eine bemerkenswerte Frau handeln müsse.
Wie alle anständigen Menschen hasse ich Montage. Die eigenschaftslose Tatsache des 1. September beflügelte mich keineswegs; nach der Lektüre von Baltasars Post hing ich in den Klauen einer allumfassenden Lustlosigkeit mit besonderer Abneigung gegen kriminalistische Allüren. So neigte ich meinen klugen Kopf über eine überregionale Tageszeitung, doch gedieh mir aus diesem Tun kein Balsam; das Blatt quoll über vom zeternden Unflat des Wahlkampfs. Ich meditierte eine Weile um dieses Phänomen herum, da es zu genauem Anfassen allzu glitschig und ekelhaft ist, handelt es sich doch um eine von Regierung und Opposition – egal, wer gerade wo steht – einmütig veranstaltete Entmündigung der Bürger, die vier Jahre lang ohnmächtig (die vom Volk ausgegangene Macht ist bisher nicht heimgekehrt; es läuft eine Vermißtenanzeige) der beiderseits verantwortungslosen Politonanie haben zusehen müssen; wer die Pfründen angreift, einigt die sonst heillos zerstrittenen Popen gegen sich; bevor man wieder eines der mehreren kleineren Übel wählt, muß man sich wie ein Mündel auch noch Rechtfertigungen und Interpretationen für Vorgänge anhören, die weder zu rechtfertigen sind noch einer Deutung bedürfen, schon gar nicht in derart miesem Stil und verstümmeltem Deutsch.
Solch fröhliche Morgengedanken an die grauen Repräsentanten riefen mir den anderen grauen Vertreter namens Brockmann sowie Baltasars Tiraden gegen die Verwaltung und die Wechselfälle des wirklichen Lebens in Erinnerung. Mit einer Gemütsbeschaffenheit, die ich als dynamische Resignation bezeichnen möchte, ergab ich mich in das Unvermeidliche. Baltasar der Große hatte seine Anordnungen erlassen; zweifellos hatte Moritz einen ähnlichen Schrieb bekommen wie ich, und mit einiger Wahrscheinlichkeit war Baltasar auch auf Ideen verfallen, die es ihm ermöglichten, neben Moritz und mir weitere Handlanger zu rekrutieren. Er hatte Bonn verlassen und erging sich in fernen Landen, wo das auch immer sein mochte, und die halbe Stadt arbeitete während seiner Abwesenheit für seine Spinnereien.
Was Edgar, der Arzt, dabei tun sollte, war mir rätselhaft. Da ich ihn aber zu dieser relativ frühen Stunde ohnehin nicht erreichen konnte – er steckte entweder im Krankenhaus oder schlief sich von demselben aus –, verschob ich eine Klärung der Frage auf unbestimmte Zeit.
Moritz hockte in seiner Redaktion und brütete angeblich über wichtigen Berichten.
»Furchtbar«, sagte er, als ich ihn anrief und mich nach seinem Befinden erkundigte, »wirklich furchtbar. Überall diese miesen kleinen Wahlkampfveranstaltungen, zu denen nur Mitglieder der einladenden Partei kommen. Also eindeutig geschlossene Gesellschaften, Privatbünde, sozusagen. Aber man muß sie
Weitere Kostenlose Bücher